Niemand ist eine Insel (German Edition)
um den Film weiterzutransportieren. Ich wollte zu ihm. Ich stand eingekeilt zwischen Menschen. Ich konnte nicht zu ihm. Jetzt fotografierte er die Gruppe um das Grab, den Pastor, die anderen Menschen, Ruth neben mir.
Hirtmann, mit dem Rücken zu ihm, sprach: »… wir möchten Gott anklagen, wenn wir uns so hart beraubt sehen. Wir mögen es tun! Wir klagen den an, der als Angeklagter auf unserer Seite steht, der eins wurde mit denen, die Schmerz haben, der leidet, wo wir leiden, der weiterleiden muß, solange Menschen leiden …«
Der Mann im Dufflecoat drehte sich plötzlich um und lief wie gehetzt davon, weiter und weiter in den Friedhof hinein, zu seinem verwilderten Ende, wo es keine Alleen und Gräber mehr gab, sondern nur noch dicht wucherndes, hochgeschossenes, nun schwarzes Unkraut, tiefste Wildnis. Von einem Moment zum anderen war der Mann in dieser Wildnis verschwunden.
»Was soll das?« flüsterte Ruth.
Ich zuckte die Schultern.
»Ich habe Angst«, flüsterte Ruth. »Sie auch, ja?«
Ich nickte.
»Seine Liebe«, sagte Pastor Hirtmann, während wieder Räder rollten, »umfängt die Toten. Sie umfängt auch die Lebenden, die in jedem Augenblick vor dem Tode stehen, und die an einem Grab so oft vergessen zu sagen: ›Herr, lehre mich bedenken, daß ich sterben muß, auf daß ich klug werde …‹«
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I ch muß hier, mein Herr Richter, etwas nachholen und – unter anderem – über die Entstehung einer Haßliebe berichten.
Kaum hatte ich am Mittag jenes schauderhaften 4. Dezember 1971 erklärt, bei Babs und bei Sylvia bleiben zu wollen, da schickte dieser Lejeune doch wahrhaftig alle anderen hinaus, weil er, wie er sagte, nun mit mir allein sprechen müsse.
Lejeune ließ sich auf eine Couch fallen, daß die Sprungfedern krachten, schnaufte, hielt seine Beinchen gezwungenermaßen infolge ihres Umfangs gespreizt, fraß Sahnebonbons und strahlte mich an.
»Was bedeutet das blöde Grinsen?« fragte ich.
»Daß ich mich über den Fortgang der Geschichte freue«, sagte Lejeune, Bonbons verschlingend, wobei ihm einfiel: »Möchten Sie vielleicht auch?« Sie können sich gewiß denken, was ich antwortete, mein Herr Richter.
Lejeune lachte sich (mit vollem Mund natürlich Bonbonteilchen versprühend) fast kaputt.
»Ta gueule, salaud!« sagte ich. »Halt die Schnauze, Saukerl!«
»Assassin«, sagte Lejeune und grinste.
»Sale assassin«, sagte ich zu dem Fettwanst von Anwalt.
»Ich werde aus Ihnen noch einen richtigen Franzosen machen«, sagte er, grenzenlos erheitert. Dann wurde er ernst. »Zuerst muß ich aus Ihnen natürlich einen falschen Deutschen machen.«
»Was soll das heißen?«
»Nun, Sie werden doch dieses Doppelleben führen müssen – immer pendelnd zwischen Babs und Sylvia Moran. In Deutschland dürfen Sie auf keinen Fall Kaven heißen, das ist Ihnen doch klar. Sie müssen sich in Deutschland überhaupt ganz anders benehmen. Gehemmter, stiller, bedrückter, kleinkariert. Wenn Sie gemeinsam mit Sylvia auftreten, sind Sie natürlich Philip Kaven, der Mann, der für die Liebe geschaffen ist! Da können Sie Ihre richtigen Papiere nehmen. Da müssen Sie sich betragen wie eh und je. In Deutschland brauchen wir für Sie einen neuen Paß, einen neuen Stil, da sind Sie ein armer, unglücklicher Vater – schauen Sie mich nicht so an, Sie Kretin! –, in Deutschland brauchen wir jetzt für Sie einen Paß auf den Namen Norton. Und nicht Paul Norton. Das war ein Denkfehler damals, in der ersten Aufregung, als Babs ins Sainte-Bernadette kam. Jetzt – vorausgesetzt, die Kleine kratzt nicht ab, denn wenn sie abkratzt, ist die ganze Sache natürlich hinfällig – jetzt müssen wir Ihnen Papiere auf den Namen Philip Norton ausstellen.«
»Warum?«
»Weil Babs, wenn sie, was ja auch sein kann, wieder nur einigermaßen klar wird, Sie Phil nennen wird. Phil – den Namen wird sie wiederfinden, wenn es ihr besser gehen sollte. Mit Kaven hat es noch lange Zeit.«
»Und die Mutter?«
»Kleine Kinder sagen Mami. Nicht Sylvia Moran, oder?« Er bohrte in den Zähnen und betrachtete enttäuscht das Ergebnis seiner Bemühungen. »Na, und Mami ist doch noch in Urlaub, nicht wahr? Also, Sie kriegen einen deutschen Paß auf den Namen Philip Norton, aber Sie leben in Amerika. Stempel und so weiter werden im Paß sein. Der Paß wird auch nicht so aussehen, als ob er eben angefertigt worden ist. Die haben da ihre Methoden in Nürnberg. Paßfotos von Ihnen müssen wir sofort machen lassen und expreß
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