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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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Herren.«
    Sie sahen mich jetzt an wie einen Verrückten, und tatsächlich sagte der Public-Relation-Mann, der Charley hieß, zu dem Arzt: »Was ist los mit ihm, Doc? Hat er den Verstand verloren?«
    Doc trat vor, sah mich prüfend an und sagte: »Der ist ganz in Ordnung.« Er beugte sich herab und schnupperte und sagte: »Riecht ein bißchen nach Alkohol. Aber besoffen ist er nicht.«
    Danach schwiegen wieder alle.
    Endlich sagte ich: »Ich will bei Babs bleiben. Und bei Sylvia. Ich will alles tun, was nun geschehen muß. Treten Sie doch bitte etwas zurück, Doc.«
    »Warum?« fragte der Arzt.
    »Sie stehen auf einem meiner Schuhe«, sagte ich. »Ich will sie anziehen. Meine Füße werden kalt.«

33
    »… dieses junge Menschenkind, das wir nun begraben, und das so sehr geliebt worden und der Gegenstand von so viel Sorge und so vielen Versuchen der Hilfe gewesen ist, so sehr vielen Versuchen der Hilfe, die zuletzt alle vergeblich waren«, sagte der Pastor Ernst Hirtmann, blaß, bedrückt, nur mittelgroß, an seiner Brille rückend. Er stand am Rand des offenen Grabes, inmitten von etwa zwei Dutzend Menschen. Ruth war da, ich war da, die Eltern des siebzehnjährigen querschnittsgelähmten Tim (GESTATTEN, NERO!), der am 3. Dezember 1971 im Nürnberger Sophienkrankenhaus gestorben war – Stunden bevor ich, aus Paris kommend, mit Ruth und Babs hier eingetroffen war. Die Wolken segelten tief an diesem Nachmittag, starker Wind wehte, es war kalt hier draußen auf dem großen Nürnberger Westfriedhof mit seinen breiten Alleen, dem Krematorium, den vielen alten hohen Bäumen, deren Äste kahl und schwarz in den Himmel ragten. Das war am Nachmittag des 7. Dezember 1971, an einem Dienstag.
    »Vergeblich und teuer«, sagte Tims Vater leise. Er stand neben mir, groß, schwer, er trug einen innen gefütterten Pelzmantel, und sein Gesicht war gerötet – doch nicht von der Kälte, sondern von Zorn. Ein zorniger alter Mann war Tims Vater. Lauter sagte er: »Ich habe mal zusammengerechnet, was uns die siebzehn Jahre gekostet haben. Allein im letzten Vierteljahr noch einmal achtzehntausend für dieses neue Gerät.«
    »Sei ruhig, ich flehe dich an«, sagte seine Frau, der die Tränen über das Gesicht rannen.
    »Achtzehntausend«, wiederholte der Mann, wie unter Zwang. »Achtzehntausend in einem Vierteljahr. Warum? Weil uns dieser englische Professor so lange geschrieben hat, mit dem Gerät kann man Wunder vollbringen, bis wir es geglaubt haben. Unsere Kasse hat gleich gesagt, die Kosten für dieses Gerät ersetzt sie nicht. Aber du, du hast gesagt, Tim muß es haben. Und die Ärzte hier? Die wollten es natürlich ausprobieren. Ich sage dir, die Ärzte auf der ganzen Welt halten zusammen. Achtzehntausend«, sagte der schwere Mann noch einmal. Dann begann er zu weinen.
    »Schock«, flüsterte Ruth mir zu. »Alles sinnlos im Moment. Das ist ein guter Vater, ein anständiger Mensch, ich kenne ihn schon so lange. Aber das passiert immer wieder bei einem Todesfall – daß Menschen einfach durchdrehen.«
    »… wir wissen«, sagte Pastor Hirtmann, »daß das Leben weitergehen muß. Das ist zugleich eine Phrase und die Wahrheit. Wie muß es weitergehen, dieses Leben? Es muß so weitergehen, daß wir – wir alle, jeder von uns – beständig den Tod vor Augen behalten und ihn niemals vergessen, ob dieser Tod nun durch eine Krankheit kommt, durch Unfall oder Krieg. Und wenn wir glauben, es habe einen Sinn, was wir Tag für Tag an nützlichen oder meist sehr unnützen Dingen tun, was wir reden, so müssen wir es daraufhin prüfen, ob dieser Sinn sich auch angesichts des Todes behaupten kann. Ob es nicht ein großer Unsinn ist. Wir werden alle sterben, unser Geschwätz wird zerflattern, und was man nachher über uns sagt, wird nicht alles wahr sein. Wahr aber sind schon jetzt die großen und die kleinen Schmerzen, wahr ist die Trauer um einen jungen Menschen …«
    Wir standen alle in der Nähe des Krematoriums, da waren Angehörige und Verwandte der Familie, aber, so hatte Ruth mir gesagt, auch ein paar Schwestern und Ärzte des Krankenhauses. Lange und klagend heulte eine Lokomotive. Um den Friedhof herum, ganz nahe, laufen die Gleise eines großen Güterbahnhofs, auch das hatte mir Ruth gesagt, als das erste Mal während dieses Begräbnisses eine Lokomotive ihren heulenden Ruf ausgestoßen hatte. Da pfiffen dauernd Züge, da rollten dauernd Räder.
    Ich war erst vor einem Tag aus Paris zurückgekommen. Sylvias Schlafkur hatten

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