Niemand ist eine Insel (German Edition)
sie ein wenig verlängert, Professor Delamare wollte kein Risiko eingehen. Heute, sofern nichts passiert war, mußte sie eigentlich schon wieder halbwegs munter sein und auf meinen Anruf warten.
»Alles, was wir tun dürfen, ist: Wir dürfen uns helfen«, sagte Hirtmann, »indem wir aufrichtig unsere Hilflosigkeit eingestehen.« Es war sehr kalt. Bald wird es schneien, dachte ich. »Auch ein Pfarrer kann diese Hilflosigkeit eingestehen«, sagte Hirtmann, »denn er vermag ja Trost nicht zu erfinden, er kann ihn nur weitergeben, wenn er es kann. Ich, ein solcher Pfarrer, sage hier und jetzt: Wenn ein Abschied so hart und bewegend ist wie der von diesem jungen Menschenkind, dann möchte ich mich viel lieber an Ihre Seite stellen, liebe Eltern, als hier zu stehen und zu Ihnen zu sprechen, und ich möchte viel lieber mit Ihnen schweigen oder vielleicht stammeln: Gott, schweige nicht über unsere Tränen!«
Ruth war sonderbar verändert. Sie sah immer wieder weit über den Friedhof hinweg, über seine Gräber. Sie schien völlig abwesend.
Wieder heulte eine Lokomotive.
Ich dachte, daß ich nachts auch Lokomotiven in meinem Hotelzimmer pfeifen gehört hatte, daß sie mich aus wirren Träumen gerissen hatten da in dem Hotel BRISTOL, in dem ich nun wohnte. Dem Portier hatte ich einen deutschen Paß auf den Namen Philip Norton gezeigt bei der Ankunft. Ich war Deutscher, aber ich lebte in Amerika, so ging das aus verschiedenen Vermerken und Visa dieses Passes hervor, der, nur drei Tage alt, absichtlich zerdrückt und fleckig gemacht worden und natürlich ein falscher Paß war. Ich werde gleich erzählen, wie ich ihn erhalten hatte.
»Aber«, sagte Pastor Hirtmann, »Gott schweigt auch nicht. Zumal nicht über unsere Tränen. Seine Stimme, die wir meistens nicht hören, die wir ersticken mit dem eigenen Lärm und Gerede, sie wird erst da hörbar, wo wir ganz, ganz winzig klein sind vor Kummer …«
Das war der Moment, in dem ich ihn sah. Genau sah.
Mager war dieser Mann, vielleicht fünfundvierzig Jahre alt, er trug einen grauen Dufflecoat über einem zerdrückten blauen Konfektionsanzug (der Dufflecoat war nicht geschlossen), ein zerdrücktes, nicht mehr sauberes weißes Nylonhemd, eine blaue Krawatte, das schwarze Haar im Igelschnitt, das Gesicht bleich, die dunklen Augen unter den dünnen Brauen gleichermaßen erfüllt von Ausdrücken der Gier, der Dummdreistigkeit und der behenden Furcht der Ratte. Er stand entfernt von mir, jenseits des Grabes, doch seine Augen waren starr auf mich gerichtet, auf mich allein.
Wer ist das? dachte ich erschrocken.
»Ein Leben ist am Ende. Ein Menschenkind ist fort, das nie die Unruhe der Erwachsenen zu spüren bekam, die Unruhe, die aus unserer wirren Welt stammt, die uns ohne Frieden lassen will …«
Die Augen! Die schmalen, eiskalten, unbarmherzigen, ja die wahnsinnigen Augen dieses mageren, schlecht gekleideten Mannes, auf mich gerichtet ohne Unterlaß …
Ruth sagte: »Was haben Sie?«
Ich sagte zwischen den Zähnen: »Da drüben der Kerl in dem Dufflecoat, der mich anstarrt, wissen Sie, wer das ist? Schauen Sie nicht gleich hin! Warten Sie ein wenig!«
»Ein Mann, so heißt unsere Botschaft«, sagte Pastor Hirtmann, »trat ein in das große Alleinsein. Die ersten, die ihn als ihren Frieden erfuhren, nannten ihn den Christus …«
»Keine Ahnung«, flüsterte Ruth. »Schaut aus wie ein Amerikaner.«
»Ich bin sicher, er ist einer«, sagte ich, fast ohne die Lippen zu bewegen.
Räder rollten nun wieder laut. Hirtmann sprach noch deutlicher: »Durch diesen Mann, den sie den Christus nannten, ist seitdem niemand mehr allein, auch nicht als ›Hinterbliebener‹, wie der Fachausdruck lautet …«
»Was beult seinen Mantel unter der linken Achsel so aus?« flüsterte Ruth. »Glauben Sie, der Mann trägt …«
»Ja«, flüsterte ich, »das glaube ich. Schauen Sie jetzt nicht mehr zu ihm!«
»… und wir erbitten um des erbärmlich alleingelassenen und umgekommenen Christus willen seinen Frieden, sein stilles, starkes, tröstendes Wort, vor allem für die Eltern …«
Der Mann im Dufflecoat steckte die rechte Hand in den Mantel, dort, wo er links ausgebeult war. Ruth unterdrückte mühsam einen Schrei. Ich duckte mich zum Sprung. Viele Menschen sahen uns erstaunt an. Der Mann, den ich nicht kannte, zog eine Minox aus der Jackentasche, hob sie und fotografierte mich, einmal, zweimal, dreimal – ich sah, wie er die Teile der Kleinstkamera immer wieder zusammenschob,
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