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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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eisgraues Haar lag wie ein dickes Fell um den knochigen Schädel. Er schüttelte mir die Hand, und wir setzten uns. Er fragte mich, ob ich die Paßfotos bei mir habe. Ich gab sie ihm. Er telefonierte, und gleich darauf kam ein junger Mann und holte die Fotos ab. »Dauert nur kurze Zeit«, sagte der Hauptkommissar Sondersen. »Die Paßabteilung hat den Paß bis auf das Foto schon vollkommen hergerichtet – mit Stempeln und Visa und allem. Hoffentlich kommt das Kind durch.«
    »Hoffentlich«, sagte ich und dachte: Aber nicht zu schnell. »Ich werde Ihnen nie danken können für das, was Sie da mit dem falschen Paß für mich tun, Herr Hauptkommissar.«
    »Sondersen, bitte, Herr Norton. Ich tue gar nichts. Das ist alles Routine. Wir helfen den anderen, die anderen helfen uns, wenn die Gründe einleuchtend sind. In Ihrem Fall sind sie es. Glücklicherweise kennen Lejeune und ich uns schon seit vielen Jahren, und er konnte mir auch einmal helfen – nicht direkt er, die französische Polizei.«
    »Ja, das sagte er mir.«
    »Natürlich«, sagte Sondersen, »geht das alles nicht ganz so einfach. Über INTERPOL wissen jetzt die Polizeidienststellen in der ganzen Welt, daß wir Ihnen hier so etwas wie einen ›Schutz-Paß‹ geben. Er hat eine besondere Nummer und eine besondere Nummernfolge und einen für diese Zwecke reservierten Buchstaben eingestanzt – das ist kein Mißtrauen gegen Sie, das ist einfach eine internationale Vereinbarung.«
    »Natürlich, Herr Sondersen.«
    Er drehte die Rose in dem Marmeladeglas und sagte unvermittelt: »Bald habe ich das hinter mir.«
    »Was?«
    »Alles hier. Ich gehe in Pension.«
    »Aber das ist doch eine sehr interessante Arbeit, die Sie haben!«
    »Zuerst dachte ich das auch«, sagte er. »Ich wollte unbedingt zum Morddezernat – obwohl ich als Verkehrspolizist anfangen mußte. Aber Mord … Kapitalverbrechen …« Er stockte. »Ich hatte einen kleinen Wahn, wissen Sie, Herr Norton. Ich wollte der Gerechtigkeit dienen.«
    »Lejeune hat mir gesagt, daß Sie das unzählige Male getan haben.« Sondersen sah mich an. Schwer hingen die Lider über den Augen.
    »Das habe ich auch getan, Herr Norton. Aber ich bin müde geworden dabei. In meiner Jugend, zuallererst, da hatte ich noch einen anderen Traum. Ich wollte das Gute fördern und Lehrer werden. Aber dann …« – er ließ die Rose los – »… dann erschien mir das sehr wenig aussichtsreich, und ich habe mich für die direkte Bekämpfung des Bösen entschieden.«
    Dies war einer der sympathischsten Menschen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, mein Herr Richter. Er sagte: »Sie halten mich für einen Sonderling, nicht wahr?«
    »Aber nein!«
    »Doch, doch, ich sehe es, Herr Norton. An Ihrem Gesichtsausdruck. So haben Sie sich keinen Mordspezialisten vorgestellt, bestimmt nicht. Nur, schauen Sie: Das Böse, und ich meine das absolut Böse, ist sehr, sehr selten auf der Welt. Die meisten Menschen, die Böses tun, haben einfach nicht genug Phantasie, um sich vorzustellen, was aus ihrem Handeln wird. Aber daneben gibt es das absolut Böse, Herr Norton. Und gerade als Mordspezialist habe ich das absolut Böse kennengelernt – oft, sehr oft, zu oft. Es ist meine Pflicht, das absolut Böse zu bekämpfen, und ich tue es auch, so gut ich es kann. Es fällt mir immer schwerer und schwerer. Wissen Sie, was das Furchtbare am absolut Bösen ist?«
    »Was?«
    »Daß Sie nichts dagegen tun können«, antwortete Sondersen. »Sie können einen absolut bösen Menschen bestrafen. Aber was ist das schon? Das ist gar nichts. Einen besseren Menschen aus ihm machen, einen auch nur um eine winzige Winzigkeit besseren Menschen, das können Sie nicht.« Er sprach ganz ruhig – wie stets. »Und das Schlimmste, Herr Norton: Wenn ich zurückblicke auf mein Leben und meine Arbeit – es gibt so vieles, das ich versäumt habe in all den Jahren, verspielt, falsch gemacht. Nichts davon kann nachgeholt oder richtig gemacht werden. Alles, was ich erreicht habe in der Vergangenheit – heute hat es keinen Wert mehr. Nichts hat Bestand in der Zeit. Die Zeit wird abgelegt, so wie das Gericht die Akten über einen Prozeß ablegt, für den es keine Revision mehr gibt.«
    »Es gibt eine Kontinuität der Ereignisse«, sagte ich.
    »Nein«, sagte Sondersen, »die gibt es eben nicht. Das ist Ihr Wunschtraum, Herr Norton. Und mein Alptraum. Wir haben so lange von der unbewältigten Vergangenheit geredet in diesem Lande – in anderen Zusammenhängen.

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