Niemand ist eine Insel (German Edition)
Sehr wenige, und leider bin ich darunter, wissen: Vergangenheit kann nie bewältigt werden! Und das ist eine Erkenntnis, die man in meiner Arbeit zuletzt nicht mehr erträgt.«
Er sah mich an.
»Warum arbeiten Sie dann noch?« fragte ich.
»Es hätte eine Möglichkeit gegeben, auszuscheiden«, sagte Sondersen. »Vor zwei Jahren. Aber damals habe ich gerade ein kleines Haus gebaut – ich bin verheiratet, wissen Sie –, und ich mußte Kredite aufnehmen und zurückzahlen, und also bleiben.«
Der junge Mann von vorhin kam in Sondersens Büro und brachte den neuen Paß, den sie fachmännisch fleckig gemacht und so hergerichtet hatten, daß er schon alt aussah, und nun war mein Foto eingeheftet und ein Prägestempel daraufgeschlagen. Ich mußte unter das Foto den Namen ›Philip Norton‹ schreiben, und dann mußte ich noch ein halbes Dutzend Papiere mit meinem richtigen Namen unterschreiben. Damit verhinderte die Paßabteilung jeden Mißbrauch des falschen Passes, das war mir klar.
»Ich danke Ihnen«, sagte ich zu dem jungen Mann. Der nickte nur und lächelte und ließ mir meinen falschen Paß und ging fort, »Besonders danke ich Ihnen«, sagte ich zu Sondersen.
»Ach, Unsinn«, sagte der. »Wenn man helfen kann …« Er stand gleichzeitig mit mir auf. »Kommen Sie«, sagte er, »ich zeige Ihnen noch etwas.« Er rollte die Lade eines Karteikastens heräus. An beiden Innenseiten, einander gegenüber, klebten zwei große Kalenderblätter, die alle Monate und Tage des Jahres vorwiesen. Ein drittes solches Blatt klebte an der Frontseite der Lade, ich mußte mich vorbeugen, um es zu sehen. Es waren Kalenderblätter für die Jahre 1971, 1972 und 1973. 1972 und 1973 waren noch unbeschrieben. Das Blatt für 1973 hatte Sondersen selbst gemacht, das für 1971 sah anders aus. Da war mit Rotstift, manisch geradezu, Tag um Tag ausgestrichen worden – bis zum 7. Dezember.
»Den siebten streiche ich heute abend aus, bevor ich heimfahre«, sagte der Hauptkommissar Sondersen.
»Aber was soll … ich meine, warum …«
»Stecken Sie Ihren Paß ein, Herr Norton. Sehen Sie, das ist die tägliche Freude, die ich mir bereite. Am ersten Dezember 1973 gehe ich endgültig in Pension!«
»Und bis dahin streichen Sie jeden Tag, den Sie noch arbeiten müssen, aus?«
Er nickte.
»Dieses Jahr ist gleich um. Dann sind es nur noch zwei, Herr Norton. Nur noch zwei Jahre!«
Ach, er sah so glücklich aus, als er das sagte, mein Herr Richter. Und er und ich, wir beide wußten damals nicht, daß der Hauptkommissar Sondersen am 31. Dezember 1973 nicht in Pension gehen würde, weil er, kurze Zeit zuvor, am 8. Oktober 1973 nämlich, noch einmal aktiv werden mußte – als er gerufen wurde, um im dreckigsten Zimmer einer der dreckigsten Absteigen von Nürnberg mit der Untersuchung eines Dramas zu beginnen. Das wußte und ahnte an jenem 7. Dezember 1971 noch niemand auf dieser Welt. Doch so sollte es kommen, und der Mann, den der Hauptkommissar Sondersen knapp vor seiner Pensionierung in diesem Stundenhotel dann sah, war tot, erschossen mit einer Kugel aus einer Pistole der Marke Walther, Modell TPH, Kaliber 6.35 mm, war der amerikanische Schauspieler Romero Rettland, und die Frau, mit der Pistole in der Hand, vor dem Toten stehend, war Sylvia Moran. Zwei Monate vor seiner Pensionierung sollte es dem Hauptkommissar Wigbert Sondersen nicht erspart bleiben, noch einmal dem absolut Bösen zu begegnen.
36
P hil …«
»Ja, Babs, ja!«
»Mami?«
»Sie kommt, Babs, sie kommt zu dir …«
»Ist sie schon lange tot?«
Das war der ganze Dialog.
Nach dieser Frage schloß DER WELT GRÖSSTES KLEINES SONNENSCHEIN-MÄDCHEN wieder die Augen, die es geöffnet hatte, als ich es ansprach, öffnete den Mund, auf dessen Lippen ich viele kleine Bläschen sah, und schlief weiter. Ihr Atem ging tief und regelmäßig. Sie lag noch immer auf der Seite, jedoch fast ausgestreckt, nicht mehr so zusammengekauert. Auch in diesem Krankenzimmer des Sophienkrankenhauses für Kinder in Nürnberg waren die Schwarzblenden vor den Fenstern herabgelassen, nur eine große Stabtaschenlampe, die Ruth trug, erhellte Babs, ihr Bett und etwas von der Umgebung des Bettes.
Ich war vom Polizeipräsidium in das Hotel BRISTOL gefahren, um mein (ärmliches) Gepäck abzugeben, dann war ich weitergefahren zum Krankenhaus. Ruth hatte mich schon erwartet.
»Kommen Sie«, hatte sie gesagt, meine Hand ergreifend, »kommen Sie, Herr Norton …« Und sie war vor mir über einen
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