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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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wenn es um die Erhaltung menschlichen Lebens ging. Ich verstand ihren Haß, ja Haß, gegen alle jene, die hier lasch waren oder für Euthanasie, in welcher Form auch immer, eintraten.
    Ich habe nie mit Ruth darüber gesprochen, aber ich habe mir natürlich überlegt, ob und wie ihr Tick, stets in die falsche Richtung zu laufen, mit jenem tragischen Erlebnis zusammenhing. War sie so erschüttert gewesen, als ihr Bruder sich umbrachte, daß etwas in ihr wirklich nicht mehr richtig ›tickte‹, weil sie unter dem Gefühl litt, sich in das Studium der Kunstgeschichte geflüchtet zu haben und über das Schöne zu meditieren, in einer Welt mit so viel Leid, mit so viel Elend? Kam ihr Tick dadurch zustande, daß sie sich immer noch Vorwürfe machte, ihrem Bruder nicht genügend seelisch geholfen zu haben? Aber wie hätte sie ihm helfen können?
    Daran denke ich, während ich diese Zeilen schreibe, mein Herr Richter. Ruth kontrollierte sich wie keine andere mir bekannte Frau. Und dennoch: Dieser fehlende Orientierungssinn, dieses beständige In-die-falsche-Richtung-Gehen – ich meine, daß das alles miteinander zusammenhängt, und ich glaube, sie meinte das auch.
    »Peters Freund, dieser Dr. Radley, ist inzwischen einer der eifrigsten Führer der amerikanischen ›Euthanasia Society‹ geworden«, sagte Ruth nun zu mir im ›Karpfenzimmer‹ des ›Edelbräu-Kellers‹ und sah über meine Schulter, während sie sprach. Kellner Arnold hatte längst den Nachtisch gebracht – Apfelstrudel. Ich hatte meine Portion noch nicht angerührt, Ruth stocherte mit einer Gabel in der ihren herum.
    »Was ist das für eine Society?« fragte ich.
    »Eine sehr mächtige. Zwei Jahre nach der englischen wurde sie gegründet. Die Gesellschaft tritt dafür ein und kämpft dafür, daß schwerkranken und alten Menschen das Recht auf Euthanasie zusteht – griechisch, nicht wahr? –, das bedeutet übersetzt ›schönes Sterben‹. Bei den Nazis sagte man ›Gnadentod‹. Es gibt da phantastische Gesetzentwürfe … Da ist er wieder.«
    »Wer?«
    Sie sah seit einiger Zeit über meine Schulter, wie gesagt.
    »Dieser Mann von heute nachmittag. Er sitzt am anderen Ende des Raums, wahrscheinlich schon lange, ich habe ihn erst jetzt entdeckt, weil ein Tisch zwischen uns frei wurde. Wer ist das, Herr Norton?«
    Ich drehte mich um.
    Da saß tatsächlich diese bleiche Vogelscheuche von Mann, der da draußen auf dem Westfriedhof einen Dufflecoat getragen und mich und Ruth und uns alle mit einer Minox fotografiert hatte und später, wie gehetzt, fortgelaufen war, zum verwilderten Ende des großen Friedhofs, dorthin, wo es keine Alleen und Gräber mehr gab, sondern nur hochgeschossenes schwarzes Unkraut, tiefste Wildnis. In dieser Wildnis war der Mann verschwunden … Ich stand auf.
    »Bleiben Sie!« sagte Ruth halblaut.
    Aber ich blieb nicht.
    Ich ging durch das ›Karpfenzimmer‹ zum Tisch dieses etwa fünfundvierzig Jahre alten Mannes und trat dicht an ihn heran, und da war wieder der irre Ausdruck in seinen Augen.
    »Was ist los?« fragte ich. Vor ihm standen nur ein Steinkrug und ein Glas voll Wein. »Gefällt Ihnen die Dame an meinem Tisch so gut? Oder ich? Wollen Sie noch ein paar Fotos machen?«
    »I don’t speak German«, sagte der Mann in einem Gemisch von Frechheit und Angst, Dreistigkeit und Feigheit, wie ich es in so konzentrierter Mischung noch nie erlebt hatte. Er trug den zerdrückten blauen Konfektionsanzug, das zerdrückte, nicht mehr saubere weiße Hemd vom Nachmittag, die gleiche blaue Krawatte. Das Haar im Igelschnitt war schwarz und sehr dicht.
    »Allright«, sagte ich und wiederholte alles noch einmal auf englisch.
    »Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden?« fragte er, und da war wieder die behende Furcht der Ratte in seinen dunklen Augen und der Ausdruck von unendlicher Gier. »Ich will keine Fotos von Ihnen!«
    »Warum haben Sie dann welche gemacht?«
    »Wann?«
    »Hören Sie, kommen Sie mir nicht blöde, ja? Heute nachmittag, auf dem Westfriedhof, haben Sie Fotos gemacht beim Begräbnis.«
    »Na und? Ist das verboten? Wollen Sie es mir vielleicht verbieten?«
    »Vielleicht will ich es«, sagte ich. »Vielleicht will ich Ihnen auch ein paar in die Fresse geben.« Und ich trat noch weiter vor. Er fuhr hoch, wich zurück, warf dabei den Stuhl um und hielt die Hände vors Gesicht. »Verschwinden Sie!« sagte ich zu ihm. Er beleckte seine Lippen, dann legte er Geld auf den Tisch. »Das wird Ihnen noch leid tun«, sagte

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