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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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Und wenn es tausendmal gegen den Eid ist, ich kann diesen Jungen nicht mehr sehen!«
    »Du mußt mal ausspannen«, sagte Ruths Bruder. »Nimm eine Woche Urlaub. Geh angeln. Du angelst doch so gerne. Dann wirst du Joe wieder sehen und behandeln können.«
    »Ich werde es nie mehr können«, sagte Dr. Radley. »Nie mehr, hörst du? Weil ich diesen Wahnsinn nicht mehr ertrage!«
    »Welchen Wahnsinn?«
    »Das Geld! Die Arbeit! Die Nerven! Die Gedanken an andere Kranke, die wir vielleicht in den letzten drei Jahren besser hätten behandeln können, wenn wir nicht immer nur an Joe gedacht hätten!«
    »Aber …«
    »Hör mal«, sagte Dr. Radley, »das ist doch ein einziger großer Wahnsinn, was wir da in den letzten drei Jahren mit Joe getan haben! Wenn einer von uns damals, gleich am Anfang, das Beatmungsgerät abgeschaltet hätte – in ein paar Stunden wäre er gestorben, garantiert schmerzfrei.«
    In der folgenden Nacht hatte Dr. Radley Dienst. In dieser folgenden Nacht kam es bei Joe zu plötzlichen Herzrhythmusstörungen, die gleich behoben werden konnten. Doch das ganze Hospital sprach am Tag darauf von nichts anderem als davon, daß nach drei Jahren bei Joe eine – wenn auch beseitigte – Komplikation aufgetreten war. In der übernächsten Nacht hatte wieder Ruths Bruder Dienst. In dieser Nacht, als sich bei Joe nicht die geringste Spur von Spontan-Atmung zeigte, drehte Ruths Bruder das Beatmungsgerät ab. Am Morgen war Joe tot.
    Prompt wurden am Bellevue Hospital Vorwürfe gegen Ruths Bruder erhoben. Die Lokalpresse bemächtigte sich des Falles. Es kam zu einer politischen Kontroverse über das Problem der Euthanasie. Man distanzierte sich von Peter. Ruths Bruder machte noch ein halbes Jahr weiter Dienst am Bellevue Hospital. Dann mußte er entlassen werden, denn in dieser Zeit war er zum Alkoholiker geworden. Er vernachlässigte seine Arbeit, traf falsche Entscheidungen und erschien betrunken oder gar nicht zum Dienst. Ruths Bruder blieb ein weiteres Jahr in Oklahoma. In diesem halben Jahr zog er ziellos umher, verkam, verarmte und erlitt eine schwere Alkoholpsychose. Von dieser genesen, war er von dem brennenden Wunsch beseelt, nach Deutschland zurückzukehren. Er kam mit dem Schiff, billigste Touristenklasse. Zu jener Zeit waren seine und Ruths Eltern schon gestorben. Peter wurde von Ruth am Bahnhof erwartet, als er endlich eintraf, und sie konnte ihr Entsetzen nicht verbergen: Ein alter, gebrochener und verwüsteter Mann entstieg dem Zug, die Ruine eines Menschen. (Damals hatte Ruth gerade ihre Doktorarbeit beendet.) Den Bruder nahm sie in ihre Wohnung – das Haus der Eltern war längst verkauft –, und sie sorgte für ihn, so gut sie konnte. In den folgenden Wochen erzählte er ihr, was geschehen war. Dann schien eine Besserung einzutreten – er hatte sich alles von der Seele geredet, einmal äußerte er sogar den Wunsch, wieder als Arzt zu arbeiten. Nur die Nächte waren immer noch schlimm. Peter (so sagte mir Ruth) hatte gräßliche Alpträume. Sie weckte den schweißbedeckten, zitternden Bruder stets, sobald sie von seinen Schreien geweckt wurde. Die gute Verfassung erwies sich als trügerisch, denn in einem nächtlichen Angstanfall schnitt Peter sich die Kehle durch. Er wurde auf dem Westfriedhof begraben, wohin ich Ruth heute begleitet hatte.

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    W issen Sie, mein Herr Richter, ich habe vor meiner Verhaftung mit vielen Ärzten zu tun gehabt und mit vielen über den Fall von Ruths Bruder gesprochen – ohne einen Namen zu nennen natürlich. Die meisten Ärzte waren der Ansicht, daß Ruths Bruder von Anbeginn an den schweren seelischen Belastungen, die der Arztberuf mit sich bringt, nicht gewachsen und daß er, dann auch noch durch Alkohol geschädigt, nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sei. Ich fand kaum jemanden, dem Ruths Bruder nicht leid tat – aber ich fand auch kaum jemanden, der sich nicht völlig in seine Lage hätte versetzen können und deshalb vermutlich genauso gehandelt hätte.
    Der Schock für Ruth war jedenfalls so gewaltig, daß sie ihr Studium der Kunstgeschichte abbrach und Ärztin wurde und sich auf das Gebiet der geschädigten Kinder spezialisierte. Sie hatte ihren Bruder über alles geliebt und bewundert. Von jenem Abend an, da sie mir erzählte, was sie erlebt hatte, waren mir auch der beständige Ernst und die fast übertriebene Leidenschaft begreiflich, mit der sie um das Leben auch noch des ärgsten Wasserkopf es kämpfte. Ich verstand ihre Unerbittlichkeit,

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