Niemand ist eine Insel (German Edition)
Ärztinnen gehalten. Ich sehe Ruth mit einem völlig gelähmten Jungen im Arm. Ganz unten und vorne etwa zwei Dutzend Kinder in Rollstühlen. Babs mußte natürlich im Bett bleiben, wir wollen nachher zu ihr gehen. Alle Krankenzimmer sind mit Tannenreisig, Lametta und bunten Kugeln geschmückt, auch der große Hörsaal.
Samy Molcho, der weltberühmte israelische Pantomime, ist gekommen. In einem phantastischen Kostüm springt und tanzt er für die Kinder, macht Tiere nach, kugelt herum – er hat sich ein ganzes Programm ausgedacht. Nur lustige Nummern. Die Erwachsenen lachen. Ein paar Kinder lachen. Sehr wenige. Von denen in den Rollstühlen nicht ein einziges. Ich sehe, wie Samy Molcho der Schweiß auf die Stirn tritt, wie er mit immer größerer Anstrengung arbeitet. Alle Kinder haben große Tüten voll Obst, Schokolade und Nüsse bekommen. Die wenigsten können sie halten. Die Erwachsenen halten sie für die Kinder. Manche Tüten fallen zu Boden, die Stufen des Hörsaals herab rollen Apfelsinen, Nüsse, Orangen. Mehrere Kinder bekommen Anfälle und werden von Ärzten hinausgetragen. Anderen wird schlecht. Samy Molcho hat gewiß noch niemals in seinem Leben so schwer gearbeitet, um Menschen zum Lachen zu bringen. Es lachen immer weniger Kinder. Zuletzt ist es ganz still. Dann erklingt, von einer Schallplatte, ›Stille Nacht‹. Das auch noch. Weitere Kinder müssen fortgebracht werden. Einige beginnen durchdringend zu schreien und auf die Ärzte oder Schwestern, die sie halten, einzuschlagen. Mein Hemd ist völlig durchgeschwitzt, als dieser Alptraum endlich endet und alle Kinder fortgebracht werden. Ich bin plötzlich allein, denn Ruth hat den gelähmten Jungen fortgetragen. Ich suche und finde sie auf einem Gang.
»Diese Weihnachtsfeiern«, sagt Ruth. »Jedes Jahr dasselbe.«
»Warum macht man sie denn, um Gottes willen?«
»Anordnung der Verwaltung und des Gesundheitsreferats. Alle Bitten, die Feiern nicht abzuhalten, sind umsonst.«
Wir kommen an einem Wartezimmer vorüber, dessen Tür offensteht. Auf einer Bank sitzt Samy Molcho, noch in seinem bunten Kostüm mit der großen Krause. Schminke rinnt über sein Gesicht. Samy Molcho weint. Er weint so sehr, daß er uns gar nicht bemerkt. Wir gehen auf Zehenspitzen weiter.
Ruth sagt: »Das Sophienkrankenhaus hat verschiedene Abteilungen. In der einen werden kranke Kinder so behandelt wie kranke Erwachsene. Dann haben wir die Abteilung für psychotische Kinder – das sind solche, die unter schweren Störungen ihres Seelenlebens leiden, für die zum Beispiel Doktor Bettelheim nach Möglichkeiten der Heilung sucht. Endlich haben wir die Abteilung für gehirngeschädigte Kinder – ganz gleich, ob sie schon vor oder bei der Geburt oder erst später, wie Babs, durch eine von vielen Ursachen oder mehrere von ihnen zusammen erkrankt sind. Es ist der Wunsch der Krankenhausleitung, daß alle Ärzte hier möglichst viel von allen Arten der Erkrankungen verstehen – und das ist schwierig, denn die Behandlungsmethoden sind völlig unterschiedlich. Ich zum Beispiel habe anfangs auf der Abteilung für cerebralgeschädigte Kinder gearbeitet, bin dann aber nach Amerika zu Doktor Bettelheim geflogen, der nur psychotische Kinder behandelt, damit ich auch auf diesem Gebiet Erfahrungen sammeln konnte. Wir versuchen, eine Allround-Klinik zu schaffen, verstehen Sie?«
Ruth und ich sind an diesem Nachmittag durch alle drei Abteilungen des Sophienkrankenhauses gegangen. Es gab nur wenige Einzelzimmer, wie Babs es zum Beispiel hat. Meistens sehe ich Räume für fünf, zehn, ja zwölf Kinder. Zuwenig Platz. An diesem Weihnachtsabend ist überhaupt nirgends Platz, denn viele Eltern sind gekommen zu denen, die nicht nach Hause dürfen. Die Eltern – und ich muß an Dantes Hölle denken, während ich an Ruths Seite durch die Säle schreite – haben ihren Kindern Geschenke mitgebracht, und sie weinen und sind verzweifelt, wenn ihre Kinder, was sehr oft der Fall ist, apathisch reagieren, die Eltern und die Geschenke gar nicht zur Kenntnis nehmen oder schwer aggressiv werden und die Geschenke zerreißen, zertreten, zerschlagen. Also sind auch noch Ärzte und Schwestern und Pfleger da, denn immer wieder erleidet ein Kind einen Anfall.
Daneben das Lachen und die Freude anderer Kinder. Sie sehnen sich nach Zärtlichkeit, und sie wollen zärtlich sein, alle, sagt Ruth zu mir. Nur in den Sälen mit den ganz schrecklichen Fällen ist es fast still. Die Spastiker, die Autistiker, die
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