Niemand ist eine Insel (German Edition)
Plattenspieler, der in ihrem Zimmer steht, denn mein Geschenk ist eine Schallplatte, die ich auspacke und auf den Teller des Geräts lege. Der Teller kreist. Diese Platte habe ich noch in Paris gekauft. Ich setze die Nadel ein. John Williams’ Stimme erklingt: »Ô Dieu, merci, pour ce paradis, qui s’ouvre aujourd’hui à l’un de tes fils …«
Suzy Sylvestres Lieblingsplatte. Die Lieblingsplatte meiner kleinen Hure mit ihrem Kosmetiksalon. Die Platte, die ich damals, in jener Nacht, als es Babs so elend ging und ich von Suzy fort ins Hôpital Sainte-Bernadette fuhr, zerbrochen und mir dabei die Finger zerschnitten habe. Nun habe ich eine neue Platte gekauft – für Ruth. Sie sitzt reglos und lauscht.
»… o, danke, Gott, für dieses Paradies, das sich heute für eines Deiner Kinder öffnet, für das kleinste, für das ärmste Deiner Kinder …«
Und jetzt schaue ich Ruth nicht mehr an, jetzt schaue ich hinaus in die weiße Nacht des Schnees.
»… auf dem Berge Golgatha stand ein Kreuz, stand ein Kreuz, und da warst Du, Herr, an dem Kreuz warst Du, und vielleicht, vielleicht streckst Du schon nach mir Deine Arme aus …«
So viel Schnee, denke ich. Noch niemals habe ich so viel Schnee fallen sehen.
»… ja, das warst Du, der mir die Arme entgegenstreckte, mir, dem ärmsten unter allen Deinen Kindern …«
So weiß ist der Schnee, denke ich. Und so schwarz sind die zehn kleinen Männer aus Fetzen, die Sammy für Ruth gemacht hat, die zehn Männer mit den schwarzen Hüten, die Kaddisch für einen Verstorbenen sagen …
»… und ich fühle, wie sich ein Feuer der Freude in mir entfacht, und ich rufe Dir zu: O, danke, Gott, für dieses Paradies, das sich heute öffnet für das kleinste, für das ärmste Deiner Kinder …«
Ich sitze auf dem Boden, und nun drehe ich mich um, und Ruth sieht mich an, wendet nicht den Kopf, und die Kerze flackert leicht, und wir hören das Lied zu Ende. Ich stehe auf und gehe zum Schreibtisch zurück. Auch Ruth steht auf.
»Ich danke Ihnen sehr, Herr Norton«, sagt sie.
»Und ich danke Ihnen.«
»Wofür?«
»Sie wissen, wofür«, sage ich. Da wendet sie den Blick wieder ab und sagt: »Wollen wir noch einmal zu Babs gehen?«
»Ja«, sage ich.
Die Gänge, durch die wir gehen, sind ganz leer.
Babs schläft.
Ruth und ich sitzen einander gegenüber, zu beiden Seiten des Bettes. Nach einer ganzen Weile endlich hat Ruth zu sprechen begonnen …
»Doktor Bettelheim war von der Idee besessen, daß nicht wenige psychiatrische Kliniken allein schon wegen ihrer Atmosphäre die Kranken noch kränker machen, und er hat immerzu versucht, seine ›Orthogenic School‹ für die Kinder gemütlicher und schöner zu gestalten – wie ein Heim. Heim ist ein ganz besonderes Wort für ihn. Er hat ein Buch geschrieben, der englische Titel, ins Deutsche übersetzt, lautet: ›Ein Heim für das Herz‹.«
»Ich verstehe«, sage ich. »Ich denke, Doktor Bettelheim tut das, damit sich die Kinder wie in einem normalen Haus fühlen und hoffen können, wieder normal zu werden – es sind doch psychotisch gestörte Kinder, sagen Sie mir, nicht wahr, und da sind die Denkzentren nicht zerstört, sondern höchstens verwirrt, wie?«
»Wenn man Glück hat, ja.«
»Nun«, sage ich, »und diese Kinder, die denken können, denken – oder wenn sie nicht denken können, spüren sie es –, daß man sie liebt und wie Menschen behandelt, während vielleicht in vielen psychiatrischen Kliniken viele Menschen nicht so denken – oder?«
»Ich kann das nicht so beantworten, Herr Norton. Ich kann Ihnen nur ein Beispiel geben: Als ich bei Doktor Bettelheim war, hatten wir eine wunderschöne Bauernwiege aus dem siebzehnten Jahrhundert.«
Babs seufzt tief im Schlaf.
»Sehen Sie: Doktor Bettelheim wollte unbedingt eine Wiege von der Größe, in der ein Kind zwischen acht und zehn Jahren sich bequem ausstrecken konnte. Aber er fand keine, die für diesen Zweck groß und strapazierfähig genug gewesen wäre.«
»Er hätte eine anfertigen lassen können.«
»Selbstverständlich«, sagt Ruth. »Aber das hätte bedeutet, eine Wiege für einen Geisteskranken anfertigen zu lassen. Und eben das wollte Doktor Bettelheim nicht! Denn auf diese Weise wäre sozusagen der Unterschied zwischen einem geistig Kranken und einem geistig Gesunden gleich mit in die Wiege gelegt worden.«
»O ja«, sage ich.
»Also mußte Doktor Bettelheim eine Wiege finden, die schon gebraucht war und die schon jahrhundertelang
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