Niemand ist eine Insel (German Edition)
entsetzlich anzusehenden Wasserköpfe schlafen oder nehmen ihre Umgebung einfach nicht zur Kenntnis. An den Betten sitzen die Eltern und weinen.
Selbstverständlich ist Pastor Hirtmann da, er weiß, daß ihn die Eltern und die Kinder brauchen. Als ich an Ruths Seite durch das große Krankenhaus gehe, sehe ich Hirtmann immer wieder auf einem Gang, in einem Wartezimmer, am Bett eines einsamen Kindes, mit Eltern reden – und das sind, schon dem Aussehen nach, arme und reiche, Arbeiter, Mittelstand, Handwerker, Bauern, Intellektuelle, Industrielle. Ich denke, daß Pastor Hirtmann zu jedem einzelnen Elternpaar gewiß in der Form spricht, die für eben dieses Elternpaar verständlich und – vielleicht – tröstlich ist.
In dem Saal, in dem der kleine Sammy liegt, der behauptet, er sei Malechamawitz, der ›Engel des Todes‹, erblicke ich zahlreiche Betten, an denen keine Eltern stehen oder sitzen. Ruth sagt mir, daß viele Eltern längst nicht mehr kommen. Sie sind froh, ihre Kinder los zu sein und gut aufgehoben zu wissen. An den Betten um Sammy herum sehe ich nur wenige Erwachsene, und ich sehe Kinder, die aufgeregt Päckchen öffnen, in denen die Geschenke liegen, die sie bekommen haben.
»Kommt her!« ruft Sammy, an dessen Bett niemand sitzt, als er uns erblickt.
»Sammy ist ein Waisenkind«, sagt Ruth leise zu mir.
Wir treten an Sammys Bett, auf dem er, noch angezogen, gelegen hat und begrüßen einander. Er schüttelt uns heftigst die Hände, dann sagt er mit glänzenden Augen zu Ruth: »Hab doch ein Geschenk für dich!«
»Für mich?«
»Ja!« Sammy verschwindet halb unter seinem Bett. »Kriegen doch alle Geschenke heute!«
»Aber die Kinder, nicht die Eltern!«
»Na und wenn ein Kind keine Eltern mehr hat?« Sammy taucht wieder auf. Seine Wangen sind gerötet. »Müssen ja nicht immer Vater und Mutter sein, nicht? Fünfzig Prozent genügen auch – nicht? Vater oder Mutter. Ich hab mir dich als Mutter ausgesucht.«
»Mich, warum? Ich bin doch so selten bei dir, du liegst doch auf einer anderen …«
»Wär schön, wenn du’s wärst«, sagt Sammy.
»Wenn ich was wär?«
»Na, meine Mutter«, sagt Sammy und überreicht ein ungeschickt in Packpapier eingewickeltes und verschnürtes Präsent. Ruth öffnet es. Sammy tanzt dabei um sie herum, so aufgeregt ist er. Unter dem Papier kommt eine Schachtel zum Vorschein. Ruth öffnet die Schachtel. Darin liegen zehn kleine Puppen – aus schwarzen Fetzen hergestellt, aus ein wenig Schnur und ein wenig Papier und ein wenig Farbe.
Zehn kleine Puppen. Sie tragen zehn kleine Hüte auf den zehn Köpfen.
Trotz des Schreckens, der mich packt, äußere ich Begeisterung, Ruth tut das sowieso und sogleich.
»Gefällt es dir?«
»Wunderbar, Sammy!«
»Du weißt, was das ist, ja?«
»Zehn Männer, die Kaddisch sagen, nicht? Müssen immer zehn sein …«
»Ja! Ja! Ja! Hab ich für dich gemacht!«
Sammy hat jetzt Freudentränen in den Augen, er springt abwechselnd von Ruth zu mir, zieht uns zu sich herab, umarmt und küßt uns. Wenn er das bei Ruth tut, ruft er selig: »Vielen Dank, vielen Dank, hab ich für dich gemacht! Vielen Dank!«
Sammy bedankt sich dafür, daß er ein Geschenk gemacht hat.
»Was heißt Kaddisch sagen?« frage ich sehr leise.
»Es ist ein jüdischer Brauch. Kaddisch sagen heißt, ein Gebet für einen Verstorbenen sprechen. Das dürfen nur Männer. Und es müssen immer mindestens zehn sein.«
»Für einen Verstorbenen?«
»Na, er ist doch Malechamawitz, der ›Engel des Todes‹, nicht?«
»Kaddisch sagen! Kaddisch sagen!«
»Sammy, das ist ein wunderbares Geschenk.«
»Vielen Dank, vielen Dank!« ruft Sammy und umarmt und küßt Ruth und drückt sie an sich, und sie küßt und streichelt ihn. »Vielen Dank, hab ich für dich gemacht!«
Dann sind wir bei Babs. Sie schläft ganz tief, mit beiden Händen hält sie den schmutzigen alten Bären, den Jean Gabin ihr einmal geschenkt hat, ihren Nounours. Babs sieht unendlich friedlich aus. Es ist schon acht Uhr, die Erwachsenen haben das Haus verlassen, in den Gängen ist es still.
Ruth sagt: »Frohe Weihnachten, Herr Norton.«
»Frohe Weihnachten, Frau Doktor«, sage ich. »Was machen Sie nun?«
»Ich habe Nachtdienst. Ich bin nicht verheiratet, ich habe keine Familie. Also habe ich mich zum Nachtdienst gemeldet.«
»Darf ich … darf ich bei Ihnen bleiben? Ich … ich habe auch niemanden.«
»Natürlich, Herr Norton.« Ruth prüft Babs’ Puls. »Fast wieder ganz normal«,
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