Niemand ist eine Insel (German Edition)
geht es elend, er ist nicht zu retten. Ich schwöre, daß ich Mister Kaven die Wahrheit gesagt habe.«
»Jetzt ist diese Wahrheit eine Lüge«, sagt Lejeune und schließt die große Aktentasche. »Jetzt geht es aufwärts mit Bianchi. Die Ärzte tun ihr Äußerstes. Sie ahnen nicht, welche Mittel es heute in der Medizin gibt, um das Leben eines Menschen, der schon ganz nahe dem Tode ist, noch zu retten – oder jedenfalls zu verlängern.«
»Zu verlängern!« schreit Marone. »Was kann ich dafür? Madonna mia! Soll ich vielleicht ins Krankenhaus gehen und die Ärzte bitten, Bianchi umzubringen?«
»Signor Marone«, sagt Lejeune, »wie darf ich das verstehen? Sie bejahen also die Euthanasie in ihrer pervertierten Form, wie die Nazis sie angewandt haben? Wären Sie, Signor Marone, vollkommen einverstanden damit, daß die Ärzte dem Leben des großen Schauspielers Alfredo Bianchi ein Ende setzen – also einen eiskalten Mord begehen –, wenn das Ihren Geschäftsinteressen diente? Sind Sie, die Möglichkeit dazu vorausgesetzt, bereit, allein oder durch Dritte dem armen Kranken Euthanasie in ihrer verbrecherischen Form zuteil werden zu lassen, damit er zu einem Ihnen genehmen Zeitpunkt nicht mehr lebt und die Welturaufführung in Rom stattfindet? Ich verzichte auf Ihr Gestotter. Sie widern mich an, Signore. Messieurs, es ist alles erledigt, wir können fahren.«
Also fahren wir. Nicht gleich zum Flughafen.
Lejeune kennt da ein Restaurant …
»Wir können nicht abfliegen, ohne dort gegessen zu haben … außerdem sterbe ich vor Hunger … Messieurs, dort gibt es Ravioli mit Gemüse überbacken, eine pikante Fleischsauce dazu … das Gemüse können Sie wählen – Bohnen, Broccoli, Rosenkohl, Porree … ich empfehle Broccoli, es gibt nichts Köstlicheres …«
Kaleidoskop!
Mein Tagebuch …
Freitag, 17. Dezember 1971: Spätnachmittag Ankunft Paris in Sylvias Jet aus Rom. LE MONDE. Rufe Nürnberg an. Spreche mit Ruth. Babs’ Zustand weiter gebessert.
Anruf bei Sylvia: Bericht über Babs, sage noch ein wenig mehr Positives. Sylvia darüber glücklich, zugleich bedrückt. Muß nun Weihnachten allein erleben. Alles, was sie sagt, ich-bezogen. Eben noch hörte ich Ruths Stimme …
Nun kam ich Sylvia trösten. Sie weint. Reines Selbstmitleid. Allein zu Weihnachten! Ich werde ständig anrufen; sage ich. Sage, was mir einfällt. Wie sehr ich sie liebe natürlich, vor allem. Kaum Erfolg. Joe sagt, daß er und die Anwälte, der Arzt und der PR-Mann Charley morgen nach Los Angeles fliegen. Zu ihren Familien. Joe hat Kinder und Enkelkinder. Großer Zirkus jedes Jahr zu Weihnachten. In Paris sehr kalt, Dauerregen. Bestelle Riesenorchideen-Gesteck für Sylvia zum 24. Kaufe noch etwas für Nürnberg. Muß lange danach suchen. Komme durchnäßt ins LE MONDE zurück. Heiß baden. Umziehen. Meine Sachen für Nürnberg! Die Brille nicht vergessen! Fahre mit Kunststoffkoffer im Maserati nach Orly. Wagen wieder in die Garage. LH-Flug um 21.30 ab Orly. Sehr müde. Vom Nürnberger Flughafen direkt ins BRISTOL. Falle ins Bett.
Samstag, 18. Dezember 1971: Es schneit. Wärmer. Sofort ins Krankenhaus. Babs schläft den ganzen Tag. Schnee und Wetterumschwung? Noch unendlich schwach, sagt Ruth! Ruth! Ich bin wieder bei ihr. Den ganzen Tag im Krankenhaus. Auch hier Weihnachtsvorbereitungen. Sie ängstigen mich. Für all diese Kinder, die im Sophienkrankenhaus bleiben müssen, soll es eine Weihnachtsfeier geben – am 24., im großen Hörsaal.
Abends im Hotel Telefonate mit Clarissa und Sylvia. Berichte, wie gut es Babs bereits geht – übertrieben. Auch in Madrid Schnee. Clarissa friert. Telefonat mit Bracken: Joe und Gefolge abgeflogen.
Sonntag, 19. Dezember 1971, bis Donnerstag, 13. Januar 1972, Zusammenfassung der Tagebucheintragungen: Ohne Unterbrechung in Nürnberg. Immer den ganzen Tag in der Klinik. Immer in Ruths Nähe. Immer wieder die Anrufe bei Sylvia und bei Bracken abends aus dem Hotel. Mit Sylvia wird es immer quälender. Suche nach jedem Wort. Pausen. Verlegenheit. Beginne Angst vor diesen täglichen Anrufen zu bekommen. Merkt Sylvia etwas?
Am 24. Dezember, nachmittags, die Weihnachtsfeier im großen Hörsaal des Krankenhauses. Furchtbarer, als ich es mir vorstellte. Alle Kinder, die nicht im Bett bleiben müssen, kommen, werden getragen, in Wägelchen gefahren. Ärzte, Schwestern und Pfleger anwesend. In den ansteigenden Reihen des Hörsaals sitzen die Kinder, sehr viele werden von Schwestern oder
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