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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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sagt sie. »Und kein Fieber mehr.«
    Ich denke, daß ich sie küssen möchte, daß es nichts gibt, was ich mehr tun möchte, als Ruth zu küssen. Ich denke, daß ich unter allen Umständen bei dieser Frau bleiben will, bleiben muß, jetzt geht es nicht mehr anders, was auch mit Babs geschieht, bei Ruth muß ich bleiben, immer. Es gibt zwei Typen von Frauen, hatte meine Mutter mir einmal gesagt: Mütter und Huren. Ich spüre nun, daß ich mich mehr und mehr zu Ruth, die so viel Mütterlichkeit ausstrahlte, hingezogen fühle. Ich bin clever genug, an mir selbst zu beobachten, daß ich in die Rolle eines von einem guten Psychiater erfolgreich behandelten Patienten geraten bin. Clever sein schützt jedoch nicht vor Liebe. Ob Ruth wohl weiß, was mit ihr geschieht? Ich sehe sie unentwegt weiter an. Zuletzt hebt sie den Blick und sagt: »Ich muß in mein Zimmer, damit ich erreichbar bin, wenn man mich braucht. Nach den Aufregungen einer solchen Weihnachtsfeier geschieht meistens etwas.«
    »Ja«, sage ich. »Ich habe auch ein Geschenk für Sie, Frau Doktor«, sage ich und denke: Für Babs habe ich keines.

    In Ruths Büro liegen viele Päckchen, stehen viele Flaschen in Geschenkpapier, liegen viele Briefe. Ruth sagt mir, daß sie solche Dinge – wie alle Ärzte – zu Weihnachten immer von den Eltern bekommt. Sie wird sie später aufmachen – morgen vielleicht. Ein Geschenk wird sie sofort aufmachen. Es ist von Tim.
    »Aber Tim ist doch tot!«
    »Er hat es noch vor seinem Tod für mich vorbereitet«, sagt Ruth, »und er hat es seinen Eltern gegeben und die haben es heute mittag hergebracht und mir gegeben.« Sie zieht ein Kuvert aus der Tasche ihres weißen Mantels. Wir setzen uns zu beiden Seiten des Schreibtisches, und draußen schneit es nun schon seit Tagen, und die Zentralheizung tickt. Ruth öffnet das Kuvert, entnimmt ihm zusammengefaltetes Briefpapier und sagt: »Tim hat ein Gedicht für mich gemacht. Soll ich es vorlesen?«
    »Bitte.«
    Auf dem Schreibtisch steht ein kleines Tannenzweiggesteck und eine rote Kerze darin. Die Kerze brennt. Sonst ist es dunkel im Zimmer. Im gelben Licht der Kerze liest Ruth das Gedicht des toten Tim.
    Das Gedicht lautet so:
    Ich versuchte, Dir zu erklären,
    Ich versuchte es wirklich,
    Ich versuchte, Dir zu erklären,
    Daß das Leben den Schmerz nicht wert ist.
    Du hast mir nicht geglaubt.
    Du hast nur gesagt: ›Unheilbar‹.
    Doch wenn das Ende kommt,
    Wirst Du sein wie ich –
    Aller Dinge beraubt und gebrochen,
    Und Du wirst leben müssen
    Das Leben des lebendigen Todes.
    Ich bin in meinen Rollstuhl gesperrt,
    Doch was macht das?
    Jetzt habe ich keinen Stolz mehr,
    Jetzt nicht mehr.
    Dir wird es genauso ergehen,
    Und Du wirst kämpfen wollen,
    Doch bald wirst Du einsehen,
    Daß es ein Kampf der Verlierer ist,
    Und daß die Menschen begierig darauf warten,
    Zu sehen, wie Du zerbrichst vor ihren Füßen.
    Oh, ich hasse es, das zu sagen –
    Ich versuchte doch so sehr, es Dir zu erklären.
    Ruth läßt das Blatt sinken.
    »Armer Tim«, sagte ich.
    »Glücklicher Tim«, sagt Ruth. »Er ist erlöst. Von allen Menschen, Her Norton, hat dieser querschnittgelähmte Junge mich am tiefsten und richtigsten verstanden und eingeschätzt – besser, als mir selber das jemals möglich war.«
    »Arme Ruth«, sage ich. »Und nun ist er glücklich, und Sie sind allein.«
    »Jedes menschliche Wesen ist allein«, sagt Ruth. »Wenn es geboren wird, wenn es stirbt. Wissen Sie, es gibt im Leben eines jeden Menschen – auch in meinem natürlich – Momente, in denen er sich besonders einsam fühlt. Oft sogar gibt es solche Momente, auch wenn man immer hofft, daß es anders sein möge. Damit muß man fertig werden. Ich glaube, nur wenn man mit der Einsamkeit leben kann, ist man fähig, auch mit anderen zu leben. Ich glaube, wenn jemand nicht allein leben kann, ist es ihm auch nicht möglich, mit anderen zurechtzukommen. Aber das ist eine lange Geschichte …«
    Sie schweigt. Erst nach einer Weile sagt sie leise:
    »Warum sehen Sie mich so an, Herr Norton?«
    Ich antworte: »Weil ich Sie liebe.«
    »Hören Sie sofort auf!«
    »Nein«, sage ich. »Ich werde niemals aufhören, Sie zu lieben, mit meinem ganzen Herzen.« Ich gehe zu meinem Mantel und entnehme ihm einen flachen Umschlag. »Aber ich verspreche Ihnen, erst wieder von meiner Liebe zu reden, wenn Sie es mir gestatten – oder wenn Sie es wünschen. Darf ich Ihnen jetzt mein Weihnachtsgeschenk geben?«
    Ruth nickt.
    Ich gehe zu dem

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