Niemand ist eine Insel (German Edition)
herabhängenden Armen da und ließ diese Begrüßung etwa drei Minuten lang über sich ergehen. In diesen drei Minuten wurde allen Anwesenden, mit Ausnahme Sylvias, klar, daß das Kind seine Mutter nicht erkannte. Nach Ablauf der drei Minuten streichelte Sylvia, ununterbrochen unter Tränen redend, Babs’ Gesicht. Dann plötzlich schrie sie gellend auf. Und zwar vor Schmerz, nicht vor Entsetzen, jedenfalls nicht gleich vor Entsetzen. Babs hatte sie in die Hand gebissen. Blut floß. Sylvia fiel zur Seite. Dr. Lévy und die beiden anderen französischen Ärzte bemühten sich um sie, versorgten die Wunde. Babs stand ohne Bewegung, sah ins Leere.
Die Ärzte gaben Sylvia, die immer weiterschrie (jetzt vor Entsetzen) eine Spritze, Dr. Lévy gab Babs viele hübsche kleine Pillen, blaue, rote und gelbe. Babs schluckte sie folgsam. Sie wurde in ihr Zimmer geführt, Sylvia blieb in 419.
»Wölfchen«, stammelte sie. »Wölfchen … sie … sie hat mich nicht erkannt!«
»Nein, Hexlein«, sagte ich.
Sylvia begann wieder zu weinen.
»Keine Zeit, keine Zeit«, sagte Joe. »Los, los, los, Sylvia! In den Ankleideraum. Katie und Joe warten schon.«
»Ich kann nicht!« schrie Sylvia.
»Du mußt«, sagt Joe. »Und du kannst. Und du wirst. Nun geh.«
Sylvia ging.
58
W eil Sylvia immer wieder weinte, brauchten ihre alten Maskenbildner Katie und Joe Patterson, die mit Clarissa zusammen gekommen waren (sie arbeiteten schon in Madrid, draußen in den Studios, wo sie seit Tagen Probeschminken unter der Überwachung des Regisseurs, des künstlerischen und des historischen Beraters und des Beraters jenes besonderen Farbfilmverfahrens mit dem Double Carmen Cruzeiro machten), viel länger als vorgesehen. Sylvia wurde auch frisiert. Dann dauerte es endlos, bis sie angekleidet war.
Sie trug einen Hosenanzug, bestehend aus schwarzer Hose, weißer Seidenbluse mit Schalkragen, darüber eine schwarze Weste mit weißem Besatz. Dazu schwarze Wildlederschuhe. Was ihren Schmuck betraf: an diesem Nachmittag mehrere Ketten aus Gold mit kleinen Brillanten, aber auch eine Perlenkette. Ein goldener Ring mit einem Brillanten am kleinen Finger, eine goldene Armbanduhr mit Brillanten und goldene Ohrringe mit Brillanten. Das gehörte alles zusammen.
Als Katie und Joe mit Sylvia fertig waren (die Spritze wirkte bei dieser inzwischen, sie war fast apathisch), gingen die beiden Maskenbildner zu Babs und schminkten diese. Wenn Sie all dies nicht glauben, mein Herr Richter – fragen Sie die Zeugen. Babs war absolut ruhig und ließ alles mit sich geschehen. Katie und Joe nahmen ihr die häßliche Schielbrille ab und schminkten sie wie für eine Filmaufnahme, kämmten ihr Haar wie für eine Filmaufnahme. Ihr schönstes Kleid wurde ihr angezogen. Babs erhielt eine außerordentlich schick gerahmte Schielbrille, die man in Paris für sie gekauft hatte – nach Angaben aus Nürnberg.
Bei Mutter und Kind waren vom Moment des Zusammentreffens an Ärzte. Als man Babs das schöne Kleid überzog, stellte sie sich wieder einmal auf die Zehenspitzen, hob die Arme und begann mit ihnen zu flügeln, ohne ein Wort, ohne einen einzigen Ton hervorzubringen. Dr. Lévy gab ihr noch ein paar rote Pillen, ich sah es im Hinausgehen. Ich mußte mich auch noch umziehen – blauen Anzug, weißes Hemd, blau-weiße Krawatte.
Neben dem ›Blauen Salon‹ gibt es hinter einem Vorhang einen ziemlich großen angrenzenden Raum. Hier versammelten sich alle Anwälte von SEVEN STARS, PR-Mann Charley, Joe, Ruth, die beiden Detektive, der Pariser Anwalt Lejeune, Clarissa, Bracken und die französischen Schwestern und Ärzte des Sainte-Bernadette, die uns auf unserer weiten Reise begleitet hatten. Zu ihnen gesellte sich ihr Chef, Dr. Sigrand. Er begrüßte mich herzlich und sagte Worte des Mitgefühls. Zur gleichen Zeit füllte sich der ›Blaue Salon‹.
Scheinwerfer, Mikrofone und TV-Kameras waren schon aufgebaut. An der Stirnseite hat der ›Blaue Salon‹ ein Podium, auf diesem stand ein langer Tisch. Brokatdecke darauf. Fünf Vasen mit Blumen darauf. Mikrofone darauf. Die Reporter hatten die längste Zeit Licht- und Sprechproben veranstaltet (irgendwelche Journalisten oder Kameraleute saßen auf den Stühlen, auf denen wir später sitzen sollten), alles war bereit – doch die Zeit konnte nicht eingehalten werden, denn Sylvia war, bereits angezogen, schmuckbehängt und geschminkt, noch einmal in Tränen ausgebrochen. Joe und Katie mußten ihre ganze Arbeit noch einmal tun.
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