Niemand ist eine Insel (German Edition)
gehe Sylvias Partner in SO WENIG ZEIT sehr schlecht, habe man gehört, sagte AFP-Parron, von Tag zu Tag schlechter. Wußte Sylvia das?
Ja, sagte Sylvia. (Sie hatte keine Ahnung.)
»Sylvia schickt ihm täglich Blumen«, sagte Joe. »Telefonieren kann sie nicht mit Alfredo. Er ist zu schwach, den Hörer zu halten.«
Das war auch für mich neu. Die Blumen schickte natürlich täglich der liebe Marone, dieses Schwein. Was für ein Glück dieses Schwein doch hat, dachte ich. Was für ein Glück! Alfredo kratzt nun doch noch ab …
Fragen.
Antworten.
Blick auf die Uhr. Immer wieder. Die verfluchte Zeit schien nicht weiterzugehen.
Die Fragerei versickerte. Und dann, mein Herr Richter, als ich schon dachte, es nicht mehr ertragen zu können, hob sich der Vorhang ein wenig, und der Anwalt Lejeune machte uns ein Zeichen. Dieses Zeichen bedeutete: Das Flugzeug mit Babs an Bord ist gestartet.
Wenige Minuten später brachen wir die Pressekonferenz ab.
AFP-Parron trat nahe heran und überreichte Sylvia namens aller Kollegen einen riesigen Strauß herrlicher Baccara-Rosen.
»Ich danke Ihnen, Monsieur Parron. Ich danke Ihnen allen, meine Damen und Herren«, sagte Sylvia.
Und dann ging sie, bei mir eingehängt, noch ein paarmal zurückwinkend, zu dem Vorhang des Nebenraumes. Joe und Bracken folgten. Die Kameras schwenkten uns nach, bis sich der Vorhang hinter uns geschlossen hatte.
»Ich …«, begann Sylvia.
»Was ist?«
Ich trat vor sie.
Sie sagte nichts mehr. Sie fiel mir direkt entgegen, die Baccara-Rosen noch in den Armen …
60
… in den Armen, in denen sie nun einen anderen Strauß Rosen hielt, auf der Bühne vor der Leinwand im Riesensaal des Teatro Sistina, das an der Via Sistina liegt, nahe der Piazza Barberini. Man schrieb den 18. Mai 1972, es war unmenschlich heiß in Rom und in dem großen Kinosaal.
Der Film SO WENIG ZEIT hatte soeben seine Welturaufführung erlebt und war ein monströser Erfolg geworden. Alfredo Bianchi war zeitgerecht abgekratzt, Sylvia hatte eine ergreifende Rede (von Bracken geschrieben, der neben mir und Joe Gintzburger in einer Loge stand) gehalten und zum Schluß alle Anwesenden – die Crème de la Crème von Italien – Millionäre, Adelige, Industrielle, Verleger, geistliche und weltliche Würdenträger, aufgefordert, sich zu einer Schweigeminute im Gedenken an den unvergeßlichen Alfredo Bianchi zu erheben. Mit gesenktem Kopf standen sie alle da. Nur die Kameras surrten, Verschlüsse klickten. Noch nicht einmal eine Minute standen wir. Und in ihr hatte ich mich an die Geschehnisse fast eines halben Jahres erinnert.
Da stand Sylvia – in einem Blumenmeer –, ihr Gala-Kleid petrolfarben, sehr gedämpft, extravagant, vorne hochgeschlossen, den Rücken bis weit hinunter freilassend, Satinschuhe, eingefärbt in der Nuance des Kleides, Ohrgehänge mit Brillanten, Brillantenarmband, ein Solitär, der größte, den sie besaß – und schön, unirdisch schön.
In diesem halben Jahr, das vergangen war, hatte Sylvia teils in Paris, teils schon in Madrid an der Vorbereitung zum KREIDEKREIS gearbeitet. Babs lag noch immer im Sophienkrankenhaus in Nürnberg. Das heißt: Sie lag nicht mehr, sie humpelte auch schon herum, erhielt von Brezel und von Ruth Unterricht, und Ruth hatte es so weit gebracht, daß Babs wieder sprach.
Sie sprach sehr undeutlich, kaum verständlich, ihr Wortschatz war weiter geschrumpft, aber sie sprach wenigstens wieder! Nach den letzten EEG-Untersuchungen gab es neuerlich eine leichte latente Krampfbereitschaft, hauptsächlich links. Der Intelligenz-Quotient nach Stanford-Binet lag bei 59 – das entsprach einem Intelligenzalter von knapp vier Jahren. Und Babs war neun!
»Wir machen große Fortschritte, Phil«, hatte Ruth mir immer und immer wieder gesagt. Große Fortschritte, mein Gott!
In diesem halben Jahr war ich oft mit Ruth ausgegangen, ins Theater, ins Kino, ins Konzert. Bei all diesen Gelegenheiten hatte sie sich auf die abenteuerlichste Weise verlaufen und dann zuletzt doch noch dorthin gefunden, wo wir hin sollten. Ich hatte in diesem halben Jahr Ruth nie mehr geküßt, sie nie mehr umarmt, geschweige denn, daß wir miteinander geschlafen hätten. Aber die Liebe bestand. Sie wurde immer vertrauter und inniger. Und immer stärker wurden Ruths Skrupel. Ich gehörte doch zu Sylvia! Nein, sagte ich immer wieder. Ja, doch, doch, ja, sagte sie immer wieder. Sie wußte nicht, wie diese Liebe weitergehen sollte. Ich wußte es auch nicht.
Ich war
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