Niemand ist eine Insel (German Edition)
Neue Kinder. Weiter rollte der Bus.
»Fahren nach Hause, ja?« fragte Babs plötzlich. Sie sah mich an. Ich sah Ruth an.
»Ja«, sagte Ruth, »jetzt fahren wir nach Hause.«
Eine Gruppe von vier Mädchen hatte zu singen begonnen. Ich verstand kein Wort. Viele Kinder in diesem Bus hatten Sprachschwierigkeiten, zum Teil sehr erhebliche, aber sie begannen alle im Takt mitzusingen. Und sie lachten. Sie lachten …
Ein Mercedes überholte uns.
Neben dem Fahrer saß, angegurtet, ein kleines Mädchen. Es sah zu uns empor, erkannte Ruth und winkte heftig. Zu meinem Erstaunen erhob Babs sich plötzlich und winkte wie Ruth zurück. Das Kind im Mercedes lachte.
»Wer?« fragte Babs.
»Das ist Jackie.«
»Auch in die Schule?«
»Ja. Du wirst sie gleich wiedersehen.«
»Mag Jackie.«
»Ich glaube, sie mag dich auch«, sagte Ruth. Und zu mir, über Babs’ Kopf, leise: »Mongoloid. Wird vom Chauffeur des Vaters jeden Morgen gebracht, jeden Abend abgeholt. Ich habe dir ja gesagt, das geht querbeet. Bauern und Generaldirektoren, Arbeiter und Künstler. Dem ärmsten und dem reichsten Kind kann dasselbe passieren. Passiert dasselbe.«
»Und dieser Bus …«
»Die Schule hat mehrere solche Busse gemietet, ständig. Einer gehört ihr. Die Busse fahren bestimmte Sammelpunkte an und holen die Kinder aus dem ganzen Landkreis. Alle, die in diese Schule gehen. Und so werden die Kinder auch wieder zurückgebracht. Manche Väter bringen ihre Kinder im eigenen Wagen. Andere würden es tun, haben aber keine Zeit dazu, weil sie um acht Uhr schon im Büro sein müssen. In der Stadt leben viele Kinder in alten Häusern. Dort gibt es keinen Lift. Wenn so ein Kind dann nicht gehen kann, muß man es die Treppen hinauf und hinunter tragen.«
»Wer tut das?«
»Die Schule hat eine Reihe von Taxifahrern unter Vertrag. Die holen die Kinder und bringen sie mit dem Taxi zu einem Bus, und nachmittags umgekehrt.«
»Ist das nicht irrsinnig teuer?«
Ruth lachte freudlos. »Und ob! Alles, was hier geschieht, ist irrsinnig teuer.«
»Aber woher kommt das Geld?«
»Im Grunde ist diese Schule pleite seit dem Tag, an dem sie zu arbeiten begonnen hat. Aber sie arbeitet immer weiter.« Ruth lachte. Babs lachte gleichfalls. Ich streichelte Babs. Sie preßte sich an mich.
»Das hast du zum ersten Mal getan«, sagte Ruth leise.
»Was?«
»Du weißt, was.«
»Ja«, sagte ich, unendlich verwundert über mich selbst. »Das stimmt. Das habe ich zum ersten Mal getan. Und ausgerechnet jetzt.«
»Nicht ausgerechnet jetzt. Natürlich jetzt«, sagte Ruth.
Wir fuhren durch dichten Wald. Am Straßenrand flog eine gelbe Tafel mit schwarzer Schrift vorbei. Ich las:
HEROLDSHEID
Unmittelbar danach sah ich einen sehr schmalen Weg nach rechts abbiegen. Der Bus beschrieb eine scharfe Wendung. Äste der Bäume kratzten über sein Dach, als der Wagen nun den schmalen Weg, der steil abfiel, hinunterrollte.
Bei der Abbiegung hatte ich ein unauffälliges Holzschild erblickt, einen Wegweiser mit dieser Inschrift:
SONDERSCHULE HEROLDSHEID
Ich sah nach vorn, durch die Windschutzscheibe. Wir fuhren auf ein breites, geöffnetes Tor aus Schmiedeeisen zu. Rechts und links davon wuchsen alte Tannen, der Wald war hier sehr dicht und dunkel. Hinter dem geöffneten Tor sah ich in grellem Sonnenlicht einen mit Kies bestreuten Vorplatz, darauf drei große Busse wie unseren und einen kleineren, Erwachsene und sehr viele Kinder, die aus den Bussen kletterten, gehoben oder getragen wurden. Und hinter dem Vorplatz erblickte ich ein kleines, weiß gestrichenes Schloß. Oder jedenfalls ein Haus, das wie ein Schloß im Stil von etwa 1910 gebaut war.
»Ganz hübsche Schule, wenn man bedenkt, daß sie ständig pleite ist«, sagte ich.
»Wenn du eine Ahnung hättest, wie wir dieses Haus bekommen haben!«
Der Bus hielt zwischen den anderen. Nun wurden auch bei uns Kinder ins Freie gehoben, getragen gestützt. Manche gingen von selber. Ich sah etwa achtzig Kinder und etwa fünfundzwanzig Erwachsene. Es herrschte großer Lärm. Die Erwachsenen sprachen mit den Kindern, die Kinder lachten und schrien, Rollwägelchen mit den Gelähmten wurden ins Innere des weißen Schlosses gerollt, hinter dem ich eine Wiese erblickte. Die Fahrer halfen, wo sie konnten. Die Erwachsenen trugen einfache Kleidung. Es fiel mir auf, daß niemand einen weißen Arzt- oder Pflegerkittel trug.
Ein noch ziemlich junger Mann mit freundlichem Gesicht und zurückgekämmtem, dichtem schwarzem Haar kam auf uns zu.
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