Niemand ist eine Insel (German Edition)
des Gewohnheitstrinkers, verglaste Augen und nur noch ein paar schwarze Zahnstumpen im Mund. Ich sah sie, weil er von Zeit zu Zeit etwas sagte und danach meckernd lachte. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Niemand von den Menschen an der Bushaltestelle beachtete ihn. Wir waren herangekommen.
Ich sah jetzt deutlich die anderen Kinder. Das eine kleine Mädchen war vielleicht sechs Jahre alt, hatte ein ganz rundes Gesicht, einen winzigen Mund und Schlitzaugen, dazu sehr dichtes, schwarzes Haar. Es schwankte, von der Mutter gehalten, beständig leicht hin und her. Der Junge trug eine Schielbrille wie Babs. Dieser Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, wurde in Abständen von einem reißenden Zucken befallen, das seine ganze rechte Körperseite quälte. Das zweite Mädchen, etwa im Alter von Babs, trug einen jener geflochtenen Bandagenhelme, die Ohren waren geschützt durch etwas, das aussah wie zwei übergroße Kopfhörer. Sie waren, wie der Bandagenhelm, grellrot gestrichen. Alle Kinder trugen bunte Kleidung und Plastikschultaschen auf dem Rücken.
Die Erwachsenen schienen Ruth zu kennen, denn sie grüßten sie alle freundlich. Ruth erwiderte die Grüße ebenso. Auch die Kinder grüßten Ruth. Ruth lachte sie an. Die Kinder lachten gleichfalls. Sie lachten auch Babs und mich an. Auch Babs und ich grüßten. Ich grüßte den versoffenen Kerl. Der sah mich bösartig an und erwiderte den Gruß nicht.
»Ja«, sagte Ruth und sah den lallenden Jungen an, »das ist eine neue Kameradin, die ich da bringe, Franz. Sie heißt Babs. Der Herr ist ihr Vater.« Ruth sagte zu Babs: »Das ist Franz, und das ist Maria, und das ist Anna. Sag ihnen guten Tag, Babs.«
Babs sagte guten Tag. Sie sprach fast so undeutlich wie der Junge. Den Jungen hatte ich überhaupt nicht verstanden. Die Kinder gaben einander alle die Hand, und Ruth machte mich mit den Eltern bekannt. Ich habe vergessen, wie sie hießen. Mich stellte Ruth als Herr Norton vor.
»Warum sind Sie nicht mit Ihrem Wagen bis hinaus gefahren, Frau Doktor?« fragte die eine Mutter.
»Es ist der erste Tag«, antwortete Ruth. »Der erste Tag für Babs. Wir …« – sie sah mich kurz an – »… wollten, daß Babs von Anfang an miterlebt, wie die meisten zur Schule fahren.«
Das kleine Mädchen, das wie ein Chinesenkind aussah, rief lachend: »Auch du Busfahren?«
»Lachen«, sagte Ruth leise zu mir.
»Ja«, sagte ich lachend zu dem kleinen Mädchen mit den Schlitzaugen, »ich fahre auch mit dem Bus.«
»Mongoloid«, sagte Ruth ebenso leise.
»Fein«, sagte das mongoloide Mädchen. »Feiner Bus. Wird dir gefallen.« Es sprach jetzt zu Babs.
Zu meiner Verblüffung sagte Babs, plötzlich viel verständlicher: »Bestimmt.«
Und lachte ein wenig.
Viele mongoloide Kinder sehen richtig hübsch aus – wie dieses kleine Mädchen hier.
»Babs hat gelacht«, sagte ich sehr leise zu Ruth.
»Natürlich«, sagte diese, ebenso leise. »Sie ist jetzt unter Kindern. Du wirst sie noch sehr viel lachen hören.«
»Und sie hat deutsch geantwortet.«
»Sie wird immer deutsch antworten, wenn sie deutsch angesprochen wird. Denn das ist ihre Muttersprache. Und es sind nur deutsche Kinder in dieser Schule, weißt du.«
»Das hat mir der Rektor auch gesagt«, antwortete ich.
Wegen dieses Rektors – Dr. Hallein hieß er – hatte ich schon am Freitag vergangener Woche in Nürnberg sein müssen. Rektor Heinz Hallein, Leiter der Schule, die Babs nun besuchen sollte, war am Freitag und auch noch am Samstagvormittag, dem Samstag vor Pfingsten, in Nürnberg und im Sophienkrankenhaus gewesen, um zu entscheiden, ob er Babs aufnehmen konnte. Er hatte sich mit ihr unterhalten, Fragen gestellt, ihr dazu ein paar sehr leichte Aufgaben gegeben, hatte lange mit Ruth gesprochen, die offenbar in sehr engem Kontakt mit Dr. Halleins Schule stand, dann hatte ich meinen falschen Paß zeigen und verschiedene Erklärungen unterschreiben müssen, zum Beispiel eine, die besagte, daß ich das Sorgerecht für Babs hatte. Die Angaben waren von Ruth bestätigt worden …
Die Straße herauf kam ein sehr großer, moderner blauer Bus. Gleichzeitig bog um die Ecke der Gaststätte ein Mann, der aussah wie ein kleiner Angestellter. Er schob einen zusammenklappbaren Rollstuhl vor sich her. In dem Rollstuhl saß, mehrfach festgeschnallt, ein etwa zehnjähriger Junge, bunt gekleidet wie alle anderen Kinder. Seine Schulmappe hing ihm um den Hals. Er zitterte unablässig. Das Gesicht war leer, die Augen ins
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