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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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Ich kannte ihn. Das war der Leiter der ›Sonderschule Heroldsheid‹, der Babs in Nürnberg begutachtet hatte, Dr. Heinz Hallein. Er begrüßte zuerst Babs, indem er in die Knie ging und ihr die Hand schüttelte.
    »Wie schön, daß du da bist«, sagte er. »Wir haben uns schon alle auf dich gefreut, und es wird dir bestimmt bei uns gefallen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Babs.«
    »Aber ich gar nicht …«
    »O ja«, sagte Rektor Hallein. »Hier ist das so: Der Tag, an dem ein Kind zum ersten Mal hierher zu uns kommt, ist sein Geburtstag.«
    »Ich habe noch einen anderen«, sagte Babs, an mich gelehnt wegen ihrer leichten Lähmung, und lachte den Rektor an. Durch ihre Schielbrille …
    »Dann hast du also zwei! Jedes Kind hier hat zwei«, sagte Hallein. »Mit deinem zweiten Geburtstag kannst du machen, was du willst. Dein Schul-Geburtstag wird hier gefeiert.«
    »Wann?« fragte Babs aufgeregt.
    »Später. Inzwischen bekommst du ein Geschenk.« Hallein hielt Babs eine große Plastiktüte hin, die angefüllt war mit Bonbons, Nüssen, Schokolade und Obst.
    Babs sagte nichts.
    »Warte«, sagte ich. »Ich halte die Tüte, sie ist zu schwer für dich.«
    »Ganz bestimmt hierbleiben bei mir?«
    »Ganz bestimmt«, sagte ich und sah, daß die Fahrer der großen Busse bereits wieder hinter ihre Steuerräder geklettert waren, geschickt und wie Artisten ihre Ungetüme wendeten und abfuhren. Der kleine Bus blieb zurück. Ich las auf seinem vorderen linken Schlag:
    SPENDE
    AKTION SORGENKIND
    ZWEITES DEUTSCHES FERNSEHEN
    Viele Kinder und Erwachsene – junge Frauen und Männer – waren schon in dem weißen Schloß verschwunden. Das Splittern einer Scheibe ließ mich auffahren.
    Große Scherben fielen von einem Fenster im Erdgeschoß auf den Kies. Ich sah kurz das verzerrte Gesicht eines Jungen, den eine Frau fortzog.
    »Alles zu deiner Begrüßung«, sagte Hallein lachend und richtete sich auf.
    »Das war Otto.«
    »Aber … aber … Fenster kaputt«, sagte Babs.
    »Ja«, sagte Hallein. »Das tut er manchmal. Andere Kinder tun es auch, weißt du. Bei uns gehen eine Menge Fensterscheiben kaputt. Und Tische und Stühle und Betten und Geschirr und was es so alles gibt.« Zu mir sagte er: »Anfälle von Zerstörungswut, Aggressionen.« Er zuckte die Schultern. Er sagte leise: »Das Ganze ist eine große Geduldprobe für alle Mitarbeiter. Wir wollen keine hygienisch reine Schule, es kann ruhig einmal Unordnung herrschen. Aber dann muß sofort wieder Ordnung gemacht werden. Das ist schwer, denn viele unserer Kinder zerstören unabsichtlich, und natürlich auch absichtlich sehr, sehr viel Spielzeug, Lernmaterial, was Sie wollen. Wir haben unseren Hauswart. Der wird heute noch das Fenster neu einsetzen. Leider ist gerade Glas so teuer.«
    »Werden oft Fensterscheiben von den Kindern eingeschlagen?«
    »Herr Norton«, sagte Rektor Hallein, »das Maximum seit Bestehen der Schule waren vierzehn Fensterscheiben an einem Tag, alle eingeschlagen von einem einzigen Jungen.«
    »Sie sagen das richtig stolz!«
    »Ich bin auch stolz«, antwortete Hallein. »Denn dadurch, daß wir diesem Jungen erlaubt haben, sich bis zum Exzeß auszutoben, ist es an jenem Tag zu einem Wendepunkt in seinem Leben gekommen.«

3
Heroldsheid, 24. August 1972

BESTÄTIGUNG

über Zuwendung an eine der in § 4 Abs. 1 Ziffer 6 des Körperschaftsgesetzes bezeichneten Körperschaften, Personalvereinigungen und Vermögensmassen.
    Bis hierher war der Text gedruckt. Das Formblatt steckte in der Schreibmaschine, die vor mir auf dem Tisch stand – eine Maschine, die mich seit heute immer von neuem an den Rand meines Verstandes brachte. Die Buchstabenhebel verfingen sich plötzlich. Das h und das r standen stets zu hoch, beim i blieb der Typenhebel hängen, ich mußte ihn mit den Fingern zurückziehen, meine Finger wurden immer dreckig, die Briefe, die ich schrieb, auch. In den letzten Tagen hatte ich gewiß mehr als hundert Briefe geschrieben – an Ärzte, Behörden, Eltern. Ich hatte Behörden und Eltern aufgesucht, ich war viel unterwegs gewesen. Ich saß – es war sehr heiß – mit nacktem Oberkörper in einem winzigen Zimmer im zweiten Stock der weißen ›Sonderschule Heroldsheid‹, es war fast Mittag, ich arbeitete seit halb neun, wie ich jeden Tag arbeitete, manchmal bis spät abends.
    Sie haben sich nicht verlesen, mein Herr Richter.
    Ich arbeitete. In Madrid hatte das alles klein, klein begonnen. Jetzt war die Arbeit schwer geworden. Mein

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