Niemand ist eine Insel (German Edition)
Nichts gerichtet. Die Beine baumelten. Hin, her. Her, hin. Hin, her.
Der Bus rollte heran, hupte, verlangsamte die Fahrt, blieb stehen. Preßluft zischte, als sich die vordere breite Tür öffnete. Das war ein fast fabrikneuer Bus, und er war noch fast leer. Nur sechs Kinder saßen drin. Außerdem sah ich zwei junge Männer und den Fahrer, einen Riesen von Mann, der eine grüne Strickweste mit Hirschhornknöpfen trug und lachend rief: »Da seid’s ihr ja, alle miteinander!«
»Onkel Willi! Onkel Willi!« riefen die beiden Mädchen.
Der eine Junge lallte etwas.
Der andere Junge im Rollstuhl sagte gar nichts.
Die zwei jungen Männer in Overalls sprangen auf die Straße. Einer von ihnen war sehr kräftig, der andere sehr schmal. Der Kräftige trug einen mächtigen kurzgestutzten Bart. Auch die beiden lachten die Kinder an. So etwas wie eine familiäre Begrüßung fand statt.
Ich sah, wie der alte Kerl mit dem Säufergesicht sich von der Hausmauer abstieß und näher kam. Der war immer noch voll. Oder schon wieder.
Die jungen Männer hoben die beiden kleinen Mädchen in den Bus, wo der Fahrer sie in Empfang nahm und auf leere Plätze – es gab ja genügend – setzte. Dann hob einer der Männer den ewig schwankenden Jungen, der kaum reden konnte, in den Wagen.
In diesem Moment richtete sich der alte Säufer auf und schrie: »Vorwärts! Vorwärts! Der Bus wartet nicht! Alle Idioten einsteigen!«
Ich erstarrte. Alle anderen Erwachsenen, Ruth eingeschlossen, taten absichtlich so, als hätten sie überhaupt nichts gehört. Der Säufer lachte jetzt dröhnend, mehr als zufrieden mit seiner Leistung, wäre um ein Haar gefallen, als er sich umwandte, und torkelte um das Eck der Gastwirtschaft. Die beiden jungen Männer hoben gemeinsam den sichtlich gelähmten Jungen aus dem Rollstuhl. Ich dachte, es würde schwer sein, ihn in den Bus zu bringen, aber die beiden Männer taten das wohl Tag um Tag, und es ging sehr schnell und sah sehr einfach aus. Der kräftige Fahrer half.
Während der Gelähmte verfrachtet wurde, trat ich – Ruth wollte mich hindern – in meiner Wut zu einer der Frauen: »Entschuldigen Sie, daß ich mich einmische. Haben Sie nicht gehört, was dieser besoffene Kerl da geschrien hat?«
»Doch, natürlich.«
»Und das lassen Sie sich bieten? Das lassen Sie sich alle bieten?«
Während des folgenden Dialogs wurde der gelähmte Junge im Bus zu einem besonders geformten Sitz getragen und dort von den beiden Männern so festgegurtet, daß er nicht heruntergleiten konnte.
»Bieten! Mein lieber Herr«, sagte die Frau.
»Das ist der Schikora. Der größte Säufer weit und breit. Steht jeden Morgen hier, Sommer und Winter, und schreit immer dasselbe«, sagte die zweite Frau.
»Dagegen müssen Sie doch etwas unternehmen!« rief ich.
Die vier Erwachsenen sahen mich an. Dann sagte die zweite Frau: »Schauen Sie, Herr …«
»Norton.«
»… Herr Norton, Sie sagen, wir müssen was unternehmen. Wie lang ist Ihre Kleine schon krank. Noch nicht lang, gelt?«
»Nein, noch nicht lang«, sagte ich.
»Unsere Kinder sind schon sehr lange krank. Meines von der Geburt an. Wissen Sie: Keiner von uns hat mehr die Kraft dazu, daß er etwas unternimmt, irgend etwas. Wir haben keine Kraft mehr. Überhaupt keine mehr.«
»Aber …«
»Sie können das nicht verstehen«, sagte der Mann, der den modernen Rollstuhl nun zusammengeklappt hatte und dem Fahrer in den Bus hineinreichte. »Danke, Herr Hausmeier. Noch können Sie es nicht verstehen. Das kommt schon noch. Ach Gott, wenn es nichts Schlimmeres geben würde auf der Welt als diese alten Trottel, diese versoffenen …«
Er wurde von dem Fahrer unterbrochen, der nun Ruth entdeckt hatte.
»Frau Doktor! Guten Morgen!«
»Guten Morgen! Wir fahren auch mit! Das ist Herr Norton und seine kleine Babs. Ich begleite die beiden das erste Mal.«
»Freut mich, Herr Norton«, sagte der Fahrer und schüttelte meine Hand. Ich dachte, er zerbricht mir die Knochen. »Komm, Babs!« Ich schob sie vor, und er hob sie in den Wagen. Ich ließ Ruth einsteigen, dann folgte ich. Sobald wir im Wagen waren, schloß sich die Falttür des Einstiegs.
»Wir setzen uns nach hinten«, sagte Ruth zu mir, während der mächtige Bus schon losfuhr. Sie führte Babs. Die Erwachsenen, die zurückblieben, winkten, und die Kinder, die eingestiegen waren, winkten zurück, auch der Gelähmte. »Es kommen noch viel mehr Kinder«, sagte Ruth, als wir, hinten im Bus, Platz nahmen, Babs zwischen
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