Niemand ist eine Insel (German Edition)
uns, ihren Koffer zwischen meinen Beinen.
Die beiden jungen Männer redeten mit den Kindern, reichten ihnen eine Puppe, einen Ball oder eine Klapper aus den Gepäcknetzen. Die Kinder hier waren alle miteinander bekannt. Sie unterhielten sich sofort, manche mir unverständlich, aber untereinander schienen sie sich zu verstehen. Plötzlich lachten sie alle sehr über etwas, das einer der jungen Männer gesagt hatte. Von da an hörte das Lachen, das Geschrei und die schwerelose Fröhlichkeit in diesem Bus nicht mehr auf. Babs fing plötzlich an zu lachen, obwohl sie gewiß nicht gehört hatte, was der junge Mann von sich gegeben hatte.
Die anderen Kinder drehten sich neugierig nach ihr um, lachten ihr zu, eines winkte. Babs winkte zurück. Ruth lachte. Da lachte auch ich.
Der Bus fuhr schnell in das offene Land hinaus. Die Sonne stand schon hoch über den Äckern und den Wiesen mit ihren frischen Gras. In der Ferne sah ich den Waldrand und leuchtend grünes Laub. Ich sah wilde Blumen blühen. Die Sonne blendete so sehr, daß ich eine Hand vor die Augen halten mußte.
»Was sind das für junge Männer?« fragte ich Ruth.
»Kriegsdienstverweigerer«, sagte sie. »Nein, warte, jetzt heißt das anders. Ersatzdienstleistende, glaube ich.«
2
I n der Stunde, die folgte, fuhr der Bus kreuz und quer über Feldwege, Waldwege, richtige Straßen, durch kleine Dörfer und hielt immer wieder. Es ist unmöglich zu beschreiben, welch absurd anmutende Umwege der Fahrer machte, um irgendwo, manchmal in völliger Einsamkeit, ein Kind abzuholen, das etwa in einem Rollstuhl wartete, begleitet von einer alten Frau. Die Kriegsdienstverweigerer hoben das Mädchen – es war gleichfalls gelähmt – in den Bus. Der Fahrer half. Der zusammenklappbare Rollstuhl wurde verstaut, das Mädchen – mit fröhlichen Rufen der anderen Kinder begrüßt – wie vordem der gelähmte Junge in einem besonders geformten Sitz festgeschnallt. Der Bus fuhr schon wieder. Das war zweifellos eine genau berechnete, seit langem eingefahrene Route.
Kurven über Kurven. Herunter von der Straße dann, wenn man es am wenigsten erwartete, über Wege durch Felder mit schwarzer Erde, durch endlose Wiesen voll gelber kleiner Blumen, durch dunkle Wälder – vielleicht zehn Minuten lang bis zur nächsten Haltestelle. Eine Reihensiedlung. Vater und Mutter mit einem sehr kleinen Mädchen, das sich, auf zwei Krücken gestützt, aufrecht hielt. Fröhlichste Begrüßung. Das Mädchen wurde in den Bus gehoben.
»Heute nachmittag um vier Uhr fünfzig, Herr Hausmeier?« fragte der Vater.
»Vier Uhr fünfzig heute nachmittag bringe ich die Agnes zurück!« dröhnte der Fahrer.
»Sie hat einen Brief in ihrem Ranzen! Geben Sie ihn bitte ab, Herr Hausmeier! Die Agnes kann zwei neue Worte sagen!« rief die Mutter.
»Agnes! Das ist ja wunderbar! Schon wieder zwei neue Worte! Welche denn?«
Agnes sagte sehr langsam, sehr mühevoll, alle hörten gespannt zu: »Frie … den … Ei … sen … bahn …«
Der Fahrer drückte das Kind an sich.
»Eisenbahn! Frieden!« rief er. Agnes strahlte. Einer der jungen Männer trug sie auf einen freien Platz, der andere trug die Krücken nach. Der Bus fuhr. Trotz der Gurte rutschte der Junge, der zuerst in den Bus gehoben worden war, in seinem Sitz herunter. Einer der Wehrdienstverweigerer, die man jetzt also Ersatzdienstleistende nannte, eilte sofort zu ihm, redete lachend auf ihn ein, schob ihn zurecht, zog die Riemen enger.
Der Bus fuhr wie durch ein unsichtbares Labyrinth. Und es war Frühling, strahlender Frühling im Land. Große Dörfer. Winzige Dörfer. Stop. Ein großer Junge stand neben einer Telefonzelle und hielt einen kleinen an der Hand. Der Große hob den Kleinen in den Bus. Der Kleine war teilweise gelähmt, einer der jungen Männer führte ihn vor sich her, Schritt um Schritt. Beide waren ausgelassen. Neuerliches Hallo im Bus.
»Mein Gott«, sagte ich. »Wo bringst du uns hin?«
»Du wirst es sehen«, sagte sie. »Du wirst es sehen.«
»Ich sehe es schon«, sagte ich. »In eine andere Welt …«
»Nein«, sagte sie. »Nein, Phil. In keine andere. Es gibt nur eine einzige, in der wir leben müssen, alle.«
Neues Dorf. Stop! Vor der Kirche stand ein sehr kleines Mädchen mit einem roten Mäntelchen und einer roten Pudelmütze. Es sah aus wie Rotkäppchen. Das Ganze wurde mehr und mehr zum Märchen für mich – aber es sollte nur noch ganz kurze Zeit ein Märchen bleiben.
Weiter rollte der Bus. Hielt wieder.
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