Niemand ist eine Insel (German Edition)
beginnt …
So las sich das im Drehbuch, das ich auf den Knien liegen hatte. Ich saß auf einem Versatzstück vor einem Scheinwerfer, neben mir Carmen. Sie hielt die deutsche Werkausgabe der ›edition suhrkamp‹ von Bertolt Brechts gesammelten Werken auf den Knien. Der Dialog des Films entsprach hier genau dem Dialog Brechts.
Ich legte mein Drehbuch weg und sah zu Azdak-Crown auf, sah die ganze Szene, die Schauspieler, die Bühnenarbeiter, die Techniker, den Kran mit dem Kameramann Roy Hadley Ching, einem Chinesen, dem berühmtesten Kameramann Hollywoods, auf einem kleinen Hocker hinter der schweren Kamera, sah Chings drei Assistenten, sah Aufnahmeleiter, Kabelträger, Techniker, Standfotografen, Requisiteure, mindestens drei Dutzend Menschen, sah Sylvia …
Und hörte den Azdak reden, exakt Bertolt Brechts Worte: »Klägerin und Angeklagte! Der Gerichtshof hat euren Fall angehört und keine Klarheit gewonnen, wer die wahre Mutter dieses Kindes ist. Ich als Richter hab die Verpflichtung, daß ich für das Kind eine Mutter aussuch. Schauwa, nimm ein Stück Kreide, zieh einen Kreis auf dem Boden …«
Der Schauspieler, der den Schauwa spielte, zog auf dem Boden einen Kreis.
»Stell das Kind hinein!« ertönte die Stimme des Azdak.
Schauwa stellte das Kind Michel, das Grusche zulächelte, in den Kreis.
»Klägerin und Angeklagte, stellt euch neben den Kreis, beide!«
Die Darstellerin der Gouverneursfrau und Sylvia traten neben den Kreis.
»Faßt das Kind bei der Hand. Die wahre Mutter wird die Kraft haben, das Kind aus dem Kreis zu ziehen!«
Getreu der Anweisung Brechts eilte der Darsteller des Zweiten Anwalts nach vorn.
»Hoher Gerichtshof, ich erhebe Einspruch, daß das Schicksal der großen Abaschwili-Güter, die an das Kind als Erben gebunden sind, von einem so zweifelhaften Zweikampf abhängen soll. Dazu kommt: Meine Mandantin verfügt nicht über die gleichen Kräfte wie diese Person, die gewohnt ist, körperliche Arbeit zu verrichten!«
Der Azdak winkte ihn zurück.
»Sie kommt mir gut genährt vor. Zieht!«
Die Gouverneursfrau zog das Kind zu sich herüber aus dem Kreis. Sylvia hatte das Kind losgelassen. Sie stand entgeistert da.
Der Erste Anwalt beglückwünschte die Gouverneursfrau: »Was hab ich gesagt? Blutsbande!«
Der Azdak sagte zu Sylvia: »Was ist mit dir? Du hast nicht gezogen.«
Sylvia antwortete – ich sah, daß Carmen, die Lippen bewegend, jedes Wort mitlas –: »Ich hab’s nicht festgehalten.« Sylvia lief zum Darsteller des Azdak, dem alten James Henry Crown. »Euer Gnaden, ich nehm zurück, was ich gegen Sie gesagt hab, ich bitt Sie um Vergebung. Wenn ich’s nur behalten könnt, bis es alle Wörter kann! Es kann erst ein paar.«
Gott, dachte ich, Gott, was für eine Frau ist Sylvia doch! Erschütternd. Sie spielt das alles nicht, nein, dies ist echtes, gelebtes Leben. Wenn sie bloß durchhält. Wir sind noch lange nicht fertig mit diesem Film. Sylvia hat noch so viel zu leisten. Und sie ist in einer so grauenvollen Verfassung …
Indessen ich das dachte, hatte der Azdak Sylvia ermahnt, den Gerichtshof nicht zu beeinflussen. Die Probe wurde wiederholt – das war die längste Einstellung des Films, aber sie würde ja unterschnitten werden. Auch beim zweiten Mal ließ Sylvia das Kind sofort los. Verzweifelt rief sie: »Ich hab’s aufgezogen! Soll ich’s zerreißen? Ich kann’s nicht!«
Der Azdak erhob sich.
»Und damit«, sagte er, Wort für Wort dem Dialog Brechts folgend, »hat der Gerichtshof festgestellt, wer die wahre Mutter ist.« Er wandte sich an Sylvia. »Nimm dein Kind und bring’s weg.« Er wandte sich an die Gouverneursfrau. »Und du verschwind, bevor ich dich wegen Betrug verurteil. Die Güter fallen an die Stadt, damit ein Garten für Kinder draus gemacht wird, sie brauchen ihn, und ich bestimm, daß er nach mir ›Der Garten des Azdak‹ heißt.«
Die Gouverneursfrau war indessen ohnmächtig geworden, wieder zu sich gekommen und wurde von dem Adjutanten weggeführt, während die beiden Anwälte schon vorangegangen waren. Sylvia stand ohne Bewegung. Der Darsteller des Schauwa führte ihr das Kind zu.
Der Azdak sagte: »Denn ich leg meinen Richterrock ab, weil er mir zu heiß geworden ist. Ich mach keinem den Helden. Aber ich lad euch noch ein zu einem kleinen Tanzvergnügen auf der Wiese draußen, zum Abschied.«
Das Kind strahlte Sylvia an. Sie sah es lange ernst an, dann lächelte sie, nahm Michel an der Hand und begann langsam auf den
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