Niemand ist eine Insel (German Edition)
hatte mit Ruth telefoniert und ihr alles erzählt.
»Es wird vorübergehen – hoffentlich«, hatte Ruth gesagt.
»Was ist mit Babs? Wie geht es ihr?«
»Schlecht.«
»Wie schlecht?«
»Sehr schlecht. Erspar mir bitte Einzelheiten. Aber ruf mich immer wieder an, ja?«
»Ja, Ruth. Immer wieder. Ruth …«
»Ja?«
»Ich liebe dich.«
»Und ich liebe dich.«
Nicht daß Sylvia gereizt oder böse zu mir gewesen wäre. Sie war vollkommen ruhig, unheimlich ruhig. Freundlich und höflich. Aber verstummt.
Wir aßen im Speisesaal. Sie sagte kein Wort. Wir saßen in der Bar, fuhren am Sonntag aus der Stadt hinaus, um einen Spaziergang zu machen. Sie sprach kein Wort. Sie fragte nicht einmal nach Babs. An diesem Morgen hatte sie schon auf mich gewartet, als ich an ihre Tür klopfte. Ich hatte sie zum Gelände gefahren. Kein Wort …
Nun, da wir aus dem Rolls stiegen, taumelte sie ein wenig – nur ganz kurz. Ich rannte zu ihr, um sie zu stützen. Sie stieß mich weg. Ein Signal ertönte. Die Probe war unterbrochen. Bracken, Bob Cummings und da Cava kamen schnell heran und begrüßten Sylvia und mich. Ihnen allen sagte Sylvia völlig normal guten Morgen. Die Detektive hielten sich verteilt im Hintergrund.
Der Regisseur da Cava, in eine Wolldecke gehüllt, musterte Sylvia besorgt. Alle drei Männer wußten von mir, was mit ihr in Nürnberg geschehen war, was sie erlebt hatte.
»Brauchst du einen Arzt?« fragte da Cava.
»Unsinn. Wozu einen Arzt? Ich spiele. Mir … mir war eben nur ein wenig schwindlig.«
»Wie schwindlig?« Bracken trug einen dicken Mantel. »Schwindlig zum Hinfallen?«
»Irgendwas mit den Augen. Im Kopf. Schon vorbei.«
Cummings schlug den Kragen seiner Tweedjacke hoch.
»Du fühlst dich nicht wohl. Phil bringt dich sofort zurück ins HILTON. Wir können heute ebensogut die Tanzszenen drehen, eh, Julio?«
»Ohne jede Schwierigkeit«, sagte da Cava.
»Kommt gar nicht in Frage!« Sylvia schüttelte den Kopf. Die langen, blauschwarzen Haare flogen. Sie trug einen grünen Hosenanzug und einen Leopardenmantel. Sie war überhaupt nicht geschminkt. »Es ist nur der verfluchte Wind«, sagte sie. »Dieser Wind macht ja jeden verrückt! Ich nehme zwei Tabletten, und alles ist okay.«
»Es ist nicht der Wind«, sagte da Cava.
»Ach, sei ruhig, Julio!« Sylvia regte sich auf. »Laßt mich doch endlich zufrieden! Meine Regel kriege ich – ein Glück, daß meine Großaufnahmen schon im Kasten sind. Es ist die Regel! Seid ihr nun beruhigt?«
Niemand sprach.
»Na schön.« Sylvia hob die Schultern. »Wo sind Katie und Joe?«
Katie und Joe Patterson, seit vielen Jahren ihre Maskenbildner, warteten schon im Schminkraum.
»Na dann«, sagte Sylvia. Damit ging sie von uns fort zu den Ateliergebäuden. Alle sahen ihr nach. Sie verschwand im Eingang. Jetzt also würden sich Masken- und Kostümbildner über Sylvia hermachen und so lange an ihr arbeiten, bis sie aussah wie das Double Carmen, das ich in einiger Entfernung erblickte. Man hatte es schon zum Einleuchten gebraucht: in einer zerschlissenen grauen Bluse, einem fleckigen Rock, schwere Holzpantinen an den bloßen Füßen; dunkle Schatten unter den Augen, angeschminkt mit einem französischen Spezialfabrikat, ockerfarben das Gesicht, ockerfarben die Beine, die Füße mit grauem Puder bestaubt und, damit der Puder hielt, mit Spray fixiert; in das ockerfarbene amerikanische Pancake-Make-up des Gesichts Stirnfalten; Mundfalten, Krähenfüße um die Augen, in die Wangen gezeichnet mit Griffeln und Pinseln, die zuvor in klebrige Lotionen getaucht werden mußten; mit glanzlos gemachtem, absichtlich verwirrtem und ungepflegt fixiertem Haar … Ja, das alles werden sie nun mit Sylvia tun, dachte ich. Eine Stunde wird es dauern, bis sie bereit ist für die größte und wichtigste Szene des Films, für diese Totale, Einstellung 512 …
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EINSTELLUNG 512. DER GROSSE VORHOF DES PALASTES/AUSSEN/TAG
KAMERA AUF KRAN. BLICK VON DREI METER HÖHE AUF DIE GESAMTE SZENE. DABEI BAUMELT VON ANFANG BIS ZUM ENDE UNSCHARF DER STRICK IM VORDERGRUND DURCH DAS BILD, AN DEM DER AZDAK AUFGEHÄNGT WERDEN SOLLTE.
Der AZDAK trinkt lange. Todesangst sitzt ihm in den Augen, als er danach in die Runde blickt. Bald wirkt der Wein. Weiteres Blut scheint aus den Wunden an seinem Körper zu quellen, denn die klägliche Kleidung, die er trägt, färbt sich immer wieder und an immer neuen Stellen rot. Der AZDAK wischt sich das Blut aus dem Gesicht und rülpst, bevor er zu sprechen
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