Niemand ist eine Insel (German Edition)
ähnlich. Indessen: Die eine Magd lebte, die andere Magd starb. Von eigener Hand war diese andere dem Tode ganz nahe gekommen, sterben wollte sie ja, sterben würde sie, wenn nicht nun noch ein Wunder geschah, nun, da der Rolls die Avenida Pio XII erreichte.
12 Uhr 36 zeigte das Zifferblatt auf dem Armaturenbrett. Südwärts raste der schwere Wagen. Ich saß am Steuer. Schlug eine Hand auf die Hupe. Nahm sie nicht mehr fort. Die Scheinwerfer eingeschaltet, brauste der Rolls mit den beiden Mägden, der lebenden und der sterbenden, dahin. Aus einem wäßrig blauen Himmel fiel kaltes Sonnenlicht auf die Stadt Madrid.
Starker Ostwind rüttelte zum Mittag dieses 9. Oktober 1972 – es war ein Montag – an den geduckten Platanen entlang dem Straßenrand, wirbelte Staub, buntes Laub und schmutzige Papierfetzen hoch. Der Rolls hetzte nun an den Hochhäusern der Calle General Mola vorüber, wo – eine Reihe von Jahren war es her – noch zerfallende Hütten aus Blech und Holz auf rotem Sandboden gestanden hatten.
»Babs …«
Röcheln aus dem Fond.
Ich preßte die Lippen zusammen.
»Schneller«, sagte Bracken. Er saß hinten. Sylvias Kopf lag in seinem Schoß. Carmen, das Double, saß neben mir. »Du sollst schneller fahren«, sagte Bracken. »You goddamned motherfucker, step an it!«
Ich trat das Gaspedal ganz durch. Wie in den Himmel hinein schoß der Wagen vorwärts, der Kuppe der ansteigenden Straße entgegen und wieder hinunter, überholte Eselkarren, Autos, Schienenbusse und Taxis. Auf fünfundneunzig, hundert, hundertundfünf Stundenkilometer kletterte die Tachonadel. Carmen begann plötzlich laut spanisch zu beten.
»Hör auf damit«, sagte ich.
»Aber ich fürchte mich so«, stammelte Carmen, jetzt in reinem Englisch.
»Ich mich auch«, sagte ich. »Entschuldige. Los, bete weiter. Na also.«
Sirenen hatten zu heulen begonnen. Im Autorückspiegel sah ich zwei Verkehrspolizisten auf ihren schweren Maschinen, die, noch in weiter Entfernung, hinter uns herjagten.
»Diese Hurensöhne«, sagte Bracken, aus dem Heckfenster blickend, »werden uns durch die Innenstadt lotsen. Was für ein Glück wir haben. Großer Gott, was für ein Glück!«
Hundertfünfzehn Stundenkilometer.
Federnd raste der Wagen dem Wolkenkratzer an der Avenida America entgegen, in dessen tausend Fensterscheiben sich das Licht der kalten Sonne brach. Bettler bettelten. Losverkäufer verkauften Lose, Vogelhändler bunte Vögel. Männer, Frauen am Straßenrand, entsetzt, flogen an mir vorbei, eben sah ich sie noch, schon waren sie verschwunden. Bremsen kreischten.
Ein Wagen war fast in den Rolls hineingefahren. Ich hatte ein Rotlicht mißachtet.
»Du sollst beten!« schrie Bracken Carmen an. »Deine Himmelsmutter muß uns jetzt helfen!«
Von neuem begann Carmen zu stammeln: »Heilige Mutter Gottes …«
Das Sirenengeheul war lauter geworden, die Polizisten kamen rasch näher. Ich sah, daß vor mir viele Wagen an den Straßenrand fuhren und stoppten.
»Babs … Babs …«
Qualvoll kämpfte Sylvia um jedes Wort.
»It’s allright, honey. Everything is allright. Everything is just dandy«, sagte Bracken, auf dessen Schoß Sylvias Kopf lag.
»Babs …«
»Yeah, baby, yeah. Don’t speak now …«
Bracken strich sehr zart über Sylvias Kopf. Das alte Tuch fiel herab, ich sah es im Rückspiegel. Grausig sah Sylvia jetzt aus. Flecken hatten sich auf dem verzerrten Gesicht gebildet. Röchelnd holte Sylvia Luft. Ihr Körper bäumte sich hoch, fiel schwer zurück. Schaum quoll aus dem Mund Sylvia Morans, die hier in Madrid jenen Film drehte, von dem sie geträumt hatte ihr Leben lang. Ihr Leben, dem plötzlich ein Ende zu setzen sie entschlossen gewesen war, vor wenigen Minuten, zum Mittag dieses 9. Oktober 1972, in ihrem Wohnwagen auf dem riesigen Freigelände der ESTUDIOS SEVILLA FILMS …
33
R uhe, wir drehen! Kamera, bitte!«
»Kamera läuft!«
»Ton!«
»Ton läuft!«
»Klappe!«
»DER KREIDEKREIS! Einstellung fünfhundertzwölf, zum zweiten Mal!«
»Los«, hatte der Regisseur Julio da Cava leise gesagt.
Bewegung war in hundertzweiundzwanzig spanische Statisten, einunddreißig Pferde, eine Handvoll berühmter amerikanischer Schauspieler, unter ihnen ein Kinderstar, gekommen, Bewegung kam in Sylvia Moran. Es war jetzt genau 11 Uhr 44, das amerikanische Script-Girl notierte gewissenhaft die Zeit, ich stand neben ihm und sah es. Dann sah ich auf.
Der Azdak, dieser Lumpenpriester des Films, trank lange aus einer
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