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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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wieder da!
    Ruth stand vor mir. In einem völlig durchnäßten Stoffmantel, ohne Hut, das Haar hing ihr triefend in die Stirn. Sie hielt eine Stablampe.
    »Du?« stammelte ich.
    »Ja.«
    »Was machst du hier?«
    »Ich wollte dich heute abend noch besuchen. Eine Überraschung.« Sie nieste. »Überraschung … ja … Und als ich den Weg hier runterfuhr, hörte ich dich plötzlich schreien. Ich nahm an, daß Babs wieder ausgerissen war und du sie suchtest. Da stieg ich auch aus und – Phil!« Sie flüsterte noch einmal: »Phil …«
    »Was ist?«
    Sie wies mit der Hand, hob ihre Lampe. Im Schein der Lampe sah ich eine halbverfaulte Futterkrippe. In der Krippe lag Babs und schlief, schlief so tief, daß sie nicht erwachte, als wir ihren Namen wieder riefen, als ich sie aus der Krippe hob.
    »Schnell ins Haus jetzt mit ihr«, sagte Ruth: »Gott sei Dank. Wenn wir sie nicht gefunden hätten, sie wäre heute nacht hier womöglich erfroren.« Sie wäre heute nacht hier womöglich erfroren …

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    R uth?«
    »Ja, Phil?«
    »Ich habe dich angelogen.«
    »Ich weiß.«
    »Was weißt du?«
    Sie hatte Babs, die halb zu sich gekommen war, heiß gebadet, sie abgetrocknet, jetzt legte sie sie eben ins Bett. Ich hatte Ruth einen Pyjama von mir und Strümpfe und Pantoffeln und einen Morgenmantel gegeben. Alles war viel zu groß für Ruth, sie sah aus wie ein Clown. Auch ich trug wieder Morgenmantel und Pyjama. Im Haus war es warm. Ich hielt das Feuer des Kanonenofens kräftig in Gang. Da stand ich und sah Ruth zu, wie sie Babs zudeckte, Babs, die schon wieder schlief. Ruth nahm die Schielbrille aus der Tasche des Morgenrocks und legte sie auf das Nachtkästchen neben Babs’ Bett.
    »Was weißt du, Ruth?«
    »Ich weiß, daß du am Ende bist, Phil.«
    »Ich kann nicht mehr« , sagte ich.
    Sie nickte und wandte sich mir zu.
    »Auf dem Nachhauseweg hast du Babs aussteigen lassen oder …«
    »Sie wollte unbedingt aussteigen! Pipi machen!«
    »… oder sie wollte unbedingt aussteigen und rannte wieder weg, und du dachtest, zum Teufel, laß sie rennen, und fuhrst weiter.«
    »Ja«, sagte ich, »ja.«
    »Ich weiß«, sagte sie, »ich weiß, mein Liebster.«
    »Ich wollte Babs umbringen, Ruth!«
    Sie nickte nur und kam auf mich zu.
    »Ich wollte sie wirklich umbringen! Weil ich es nicht mehr aushielt! Meine Hand – schau! Sie hat mich gebissen!«
    Ruth sah mich stumm an.
    »Ich … ich habe sie im Wald gelassen und bin hierher gefahren. Ich wollte mich ins Bett legen und schlafen. Das Fenster in ihrem Zimmer habe ich geöffnet. Morgen früh hätte ich gesagt, sie sei nachts ausgerissen.«
    »Ich weiß. Ich weiß.«
    »Du … du weißt?«
    »Alles, ja. Auch, daß du es dann doch nicht über dich gebracht hast und wieder aufgestanden bist, um Babs suchen zu gehen.«
    »Woher … woher weißt du das?«
    »Ist es nicht so gewesen?«
    »Genauso, ja, genauso! Aber wie kannst du …«
    »Komm«, sagte Ruth und zog mich an der Hand, der unverletzten. Wir verließen das Zimmer von Babs, die Tür blieb einen Spalt offen, und wir gingen in das kleine, primitive Wohnzimmer.
    »Aber … aber Ruth, ich war ein Mörder! Ein potentieller Mörder!«
    »Ja, Phil.«
    »Und?«
    »Und ich liebe dich.«
    »Du …«
    »Du hast nicht gemordet, Phil. Du wirst nie morden. Du bist ein anständiger Mensch.«
    »Na!«
    »Setz dich. Ich mache neuen Tee. Dann erzähle ich dir etwas.«
    »Was?«
    »Du hast mich doch immer wieder gefragt, wie die kranken Kinder in ein solches kleines Schloß kommen.«
    »Ja, aber das ist mir …«
    »Ich werde es dir erzählen.«
    »Ich will’s gar nicht mehr wissen!«
    »Du mußt es aber wissen. Heute mußt du es erfahren. Und darfst es nie vergessen – jetzt, wo du nie mehr Babs allein lassen wirst.« Sie ging in die kleine Küche und sagte über die Schulter: »Ich bleibe bei dir heute nacht.«

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    D ie ›Sonderschule Heroldsheid‹ verdankt ihre Entstehung der übergroßen Verzweiflung eines Ehepaares namens Leitner, zweier gänzlich unbekannter, in kleinen Verhältnissen lebender Menschen, die kein Bankkonto, keinen Mercedes, keine Villa, keine Jagd, keinen Schmuck und keine Yacht im Mittelmeer hatten. Nur einen gelähmten Sohn, den sie liebten, so sehr, wie sie einander liebten. Der Vater war ein kleiner Angestellter in einer großen Bank. Das gelähmte Kind hieß Alois.
    Mit Alois waren die Eltern bald nach seiner Geburt von Arzt zu Arzt gezogen. Die Geschichte dieser Odyssee ist unfaßbar, sie ist eine einzige

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