Niemand ist eine Insel (German Edition)
Geistig Behinderte e.V.‹ in Marburg an der Lahn.
Bei der Einweihung der ›Sonderschule Heroldsheid‹ durften natürlich hohe Kommunalpolitiker nicht fehlen. Einer hielt eine ergreifende Rede. Ein Kammerorchester spielte Vivaldi. Es gab billigen Sekt und kleine Brötchen. Allen war äußerst feierlich zumute, selbst den Erben. Angesichts der ersten dreißig Kinder erklärten sie sich bereit, die Monatsmiete auf fünftausend Mark zu senken …
So war die ›Sonderschule Heroldsheid‹ entstanden. Durch die Initiative eines verzweifelten Elternpaares und einer verzweifelten Mutter, deren Kinder man als ›nicht förderungswürdig‹ erklärt hatte.
Frau Leitner sagte einmal zu Ruth: »Lange, lange haben wir natürlich gehofft, daß unser Alois doch einmal gesünder werden wird. Heute haben wir die absolute Gewißheit, daß er niemals auch nur ein bißchen gesünder werden wird. Nun haben wir eine einzige furchtbare Sorge: Was geschieht mit Alois, wenn wir einmal tot sind?«
Darauf sagte Herr Leitner, der bei diesem Gespräch anwesend war: »Laß nur, Anna. Gott hat geholfen …«
46
»… und er wird wieder helfen.«
»Ich aber«, erzählte mir Ruth in jener Spätherbstnacht, »sagte zu ihm: ›Nein, Herr Leitner, nein, Menschen haben sich und anderen hier geholfen. Und sie müssen und werden es immer wieder tun. Nur Menschen können Menschen helfen.‹«
Nachtwind wehte ums Haus. Babs schlief tief, wir konnten ihre Atemzüge hören.
Ich sagte: »Nur Menschen können Menschen helfen … Was ist mit Gott? Nichts? Mit allen Göttern? Nichts? Mit Buddha? Nichts?«
»Buddha«, sagte Ruth. Sie sah komisch aus in meinen viel zu großen Kleidungsstücken. »Andere Ärzte suchen sich einen Ausgleich bei Musik. Man hat dieses oder jenes Hobby. Jeder sucht Erleichterung, nicht wahr, jeder sucht Frieden. Ich fand ihn bei Buddha, siehst du. Er lehrt über das Gute und das Böse. Das Böse ist die Befriedigung eines Verlangens auf Kosten anderer Menschen. Das Gute hingegen ist ein persönliches Opfer für jegliches Leben, selbst das des Feindes. Dieser Grundsatz des ›Nichtverletzens‹ gibt einem Schutz gegen das Übel des Verletzens. Zweieinhalbtausend Jahre nach Buddha hat ihn Gandhi vorgelebt. Die Nächstenliebe ist kein Akt des Gottesdienstes, sondern einer auf dem schweren Weg der ›Befreiung‹. Die Nächstenliebe schließt ein Gefühl der Brüderlichkeit aller Wesen ein – ja sogar eine gute Gesinnung gegen alles, was nicht ein Menschenwesen ist. Wahrscheinlich hältst du mich für absonderlich – aber bei der Arbeit, die ich zu tun habe, tröstet mich der Buddhismus, macht das Ärgste erträglich.«
Danach schwiegen wir beide lange, der Nachtwind heulte weiter ums Haus, und wir sahen einander lange an. Dann sagte Ruth: »Es tröstet mich auch Liebster, was du tust, seit ich dich kenne. Gerade jemand wie du. Wir lieben uns. Wir betrügen Sylvia. Ich kann mir deswegen keinen Vorwurf machen, ich bin offenbar amoralisch.«
»Du bist wunderbar«, sagte ich.
»Ich werde die Nacht bei dir bleiben, weil ich weiß, was du mitgemacht hast und noch mitmachen wirst. Aber nicht nur deinetwegen tue ich es. Denn ich brauche dich, wie du mich brauchst. Ich habe lange gezögert. Nun sehe ich klar. Du und ich, die wir uns um Babs sorgen, haben das Recht, auch zu uns gut zu sein. So sehe ich das jedenfalls. Vielleicht ist es ganz falsch und schlecht. Aber es ist mir egal, jetzt …«
Als meine Lippen sich auf die ihren legten, begann die Klingel im Wohnzimmer zu läuten, sehr laut.
Sehen Sie, mein Herr Richter: Telefonieren konnte ich nur aus dem Büro des Rektors. Für den Fall nächtlicher Anrufe in der Schule – und mit denen war nur in dringenden Fällen zu rechnen – war eine Klingel in dem kleinen Häuschen angebracht worden, schon zu Zeiten des Hauswarts. Diese Klingel schrillte, wenn nachts, drüben im Büro des Rektors, ein Telefongespräch ankam.
Seit ich hier wohnte, geschah dies zum ersten Mal.
»Ich muß rüber«, sagte ich. »Sehen, was los ist.« Ich hatte alle Schlüssel der Schule. Ich zog den schweren Gummimantel und die Stiefel wieder an, auch Ruth nahm ihren Mantel. Alles ging sehr schnell. Das Telefon drüben hörte nicht auf zu läuten, hier schrillte die Klingel immer weiter. Wir rannten durch Wind und Regen zur Schule hinüber, dann war ich in Halleins Büro, hob den Hörer ab, meldete mich und gab den Hörer Ruth.
»Das Krankenhaus.«
Sie lauschte, sagte nur wenige Worte, nickte,
Weitere Kostenlose Bücher