Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
Vom Netzwerk:
ausgerissen. Und ich sollte sie also jetzt suchen. Im dunklen Wald. Im Regen. In der Kälte. Nach allem, was ich hinter mir hatte. Ich schrie wieder ihren Namen. Der Regen peitschte in den Bus. Es kam keine Antwort. Ich schrie immer weiter den Namen, und je länger ich schrie, desto wütender wurde ich. Zuletzt war ich rasend vor Zorn. Das hielt ich nicht mehr aus. Das hielt ich nicht mehr aus! Das hielt kein Mensch aus! Das war zuviel. Schluß. Schluß! Alle Leute, die ich so verabscheut hatte wegen ihrer negativen Einstellung den behinderten Kindern gegenüber, verstand ich plötzlich. Alle diese Leute hatten ja recht! Mein Freund Hitler! Weg mit den Idiotenkindern! Sie sollen verrecken! Je schneller, desto besser!
    Verurteilen Sie mich, mein Herr Richter. Verdammen Sie mich. Lesen Sie nicht weiter. Oder lesen Sie weiter und versuchen Sie, der alles versteht, auch dies zu verstehen. Ich habe zu Beginn meines Berichtes gesagt, daß ich niemals lügen werde. Hier steht sie, die Wahrheit über diesen Abend.
    Ich dachte plötzlich: Und wenn du nicht mehr nach Babs schreist? Und wenn du dich nicht mehr um das Balg kümmerst? Und wenn du dich jetzt zu Bett legst – müde bist du wahrhaftig, du hast genug hinter dir – und einschläfst und nicht mehr erwachst vor morgen früh? Und nur ein Fenster im Zimmer von Babs öffnest, damit man dir glaubt, wenn du sagst, sie sei nachts eben wieder ausgerissen? Sie ist doch in der Klinik dauernd ausgerissen. Warum dann nicht hier, mit mir allein? Wenn ich das tue? Zurück findet sie nicht allein bis zur Schule, gewiß nicht. Sie wird im Wald umherirren. Hinfallen. Aufstehen. Hinfallen. Liegenbleiben. Total erschöpft. Und, so Gott gibt, umkommen in dieser kalten Nacht. Erfrieren …
    Ja, und?
    Ich kurbelte das rechte Fenster hoch und schlug den Gang hinein und fuhr an, weiter bis zu dem großen, geschlossenen Gittertor. Ich stieg aus und öffnete das Tor, ich hatte die Schlüssel. Ich parkte den Wagen dort, wo er immer parkte, dann schloß ich das Tor wieder ab und ging durch den Regen zu dem kleinen Haus, sperrte auf und öffnete erst einmal alle Fenster, denn die Luft war schlecht, und dann schloß ich die Fenster wieder bis auf jenes in Babs’ Schlafzimmer und ging in die Küche und machte Tee und trank ihn mit viel Rum und saß auf einem Hocker.
    Dann stand ich auf, zog mich aus, wusch mich, zog einen Pyjama an und legte mich auf die Couch im Wohnzimmer. Der Regen pladderte auf das Dach. Und Ruth war in Nürnberg im Sophienkrankenhaus. Und Sylvia war am Pico de Aneto, tief im Schnee, im Zentralmassiv der Pyrenäen. Und ich war hier. Und Babs war im Wald und bald tot.
    Hoffentlich.

43
    E ine Stunde hielt ich das aus. Nicht einmal eine Stunde. Dann stand ich auf, zog mich wieder an, suchte den Gummiregenmantel und die schweren Gummistiefel, die der Hauswart zurückgelassen hatte, fand sie, fand auch eine Sturmlaterne, zog Stiefel und Mantel an (er hatte eine Kapuze), zündete die Sturmlaterne an und verließ das Haus. Zuerst ging ich noch. Dann lief ich. Dann rannte ich. Es gab zwar neben dem Gittertor einen Zaun, doch der war an vielen Stellen niedergetreten, so kam ich um das Tor herum in den Wald. Ich schrie nach Babs. Zehnmal. Zwanzigmal. Fünfzigmal. Ich spürte, wie ich heiser wurde. Ich hatte nur einen Gedanken: Ich muß Babs finden. Ich muß sie finden! Ich bin verantwortlich für sie, wie jeder Mensch für einen anderen verantwortlich ist. Ich bin kein Mörder. Ich will kein Mörder werden.
    »Baaaaabs!«
    Ich schrie weiter ihren Namen und fluchte dazwischen, verfluchte Babs und betete, daß ich sie fand.
    Dieser Wald war sehr alt und dicht. Ich suchte zuerst einen Streifen entlang jener Straßenseite ab, an der Babs ausgestiegen war. Aber da fand ich sie nicht. Sie mußte tiefer in den Wald hineingelaufen sein. Tiefer hinein in den verfluchten Wald.
    »Baaaaaabs!«
    Ich schrie immer wieder. Ich glitt aus, fiel, riß mir an Baumstämmen und Unterholz Gesicht und Hände blutig. Taumelte weiter. Fiel wieder. Erhob mich wieder. Weiter! Und dann, wie in einem Traum, hörte ich plötzlich Ruths Stimme: »Babs! Babs! Baaaabs!« Ich wurde verrückt! Ich verlor den Verstand. Jetzt und hier.
    »Baaaaabs!« schrie ich.
    Und: »Baaabs! Baaaaabs! Baaabs!« kam die Stimme Ruths als Antwort.
    Nach etwa zwanzig Minuten erreichte ich eine Wiese. In der Finsternis, zwischen den Baumstämmen, glaubte ich ein Licht zu sehen, es schwankte auf und nieder, verschwand, war wieder da. War

Weitere Kostenlose Bücher