Niemand ist eine Insel (German Edition)
Anklage, aber ich schreibe hier die Wahrheit nieder, mein Herr Richter, die Wahrheit!
Seine ersten Jahre verbrachte Alois in Kliniken. Man experimentierte mit ihm herum.
Die Bank, in der Leitner arbeitete, hatte Filialen und Zweigstellen in vielen Städten. Die Leitners waren oft gezwungen, von einer Stadt in eine andere zu übersiedeln. So ging dadurch und durch falsche Behandlung, durch Behandlung nach den Methoden immer neuer Ärzte, durch keine Behandlung kostbarste Zeit verloren. Die Leitners, kleine Leute, gedemütigte Leute, konnten sich nicht wehren. Sie waren dankbar, als man Alois in ein Heim aufnahm. Er blieb da nicht lange. Er war da, wie man den Eltern mitteilte, ›untragbar‹. Er kam in das nächste Heim. In das dritte, das vierte.
Mit Erreichen des Schulalters wurde es ganz schlimm. Normale Schulen konnte Alois natürlich nicht besuchen. Also kam er in eine Hilfsschule. Eines Tages rief man Herrn Leitner und teilte ihm mit, Alois müsse die Hilfsschule verlassen, er sei nicht ›förderungswürdig‹.
Nicht förderungswürdig.
Dieses Wort verwendete ein Akademiker, ein Pädagoge, der Leiter jener Schule, in. der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die Leitners waren damals – vor sieben Jahren – am Ende, er mehr als sie. Sie, die Mutter, fand eine andere Frau mit einem geistig behinderten Kind in einem Vorort von Nürnberg, wo die Leitners endlich gelandet waren. Und sie machten die Bekanntschaft von Dr. Ruth Reinhardt, Oberärztin am Sophienkrankenhaus. Diese erklärte sich bereit, zusammen mit einer Bekannten, einer ausgebildeten Kraft namens Wilma Bernstein, die sechs Jahre KZ überlebt hatte, die beiden Kinder ärztlich zu betreuen und ihnen Unterricht zu geben. Aber wo?
Die Leitners kannten eine leerstehende ehemalige Turnhalle in ihrer Gemeinde. Sie richteten ein Gesuch an die Gemeindeverwaltung, ihnen die Turnhalle zu überlassen. Dieses Gesuch lehnte die Gemeindeverwaltung ab. Denn um die verlassene Turnhalle, die keiner brauchte, zu mieten (Herr Leitner sagte, er werde das Mietgeld schon aufbringen), hätten die Eltern der beiden kranken Kinder sich als eingetragener Verein präsentieren müssen.
So gründeten das Ehepaar Leitner und die alleinstehende Mutter die MENSCHENWELT – den Titel hatte sich Herr Leitner ausgedacht. Nun begann bei den Behörden eine wahre Kafka-Geschichte. Als eingetragener Verein hätten sie die Chance gehabt, das Prädikat ›anerkannt gemeinnützig‹ zu erhalten. Erhielten sie es, hatten die Mitglieder steuerliche Vorteile. Aber ein Verein mit drei Mitgliedern und zwei Kindern – das sei einfach lächerlich, so versicherte man Herrn Leitner bei den Behörden. Für einen eingetragenen Verein brauche man mindestens sieben Mitglieder!
Ruth hatte auf ihrer Station im Sophienkrankenhaus mehr als genug Kinder in ähnlich verzweifelter Lage. Folge: Etwa dreißig Elternpaare mit behinderten Kindern lernten einander kennen, taten sich zusammen. Ein Anwalt war darunter, ein Steuerberater, ein Mann der Nürnberger Stadtverwaltung. Mit solchen Fachleuten kam die Sache in Schwung. Die Regierung sagte Geld zu – aber natürlich nicht für einen halb verfallenen Turnsaal, sondern nur für eine richtige Schule mit richtigem Fachpersonal.
Die Verzweifelten hatten Glück. Das haben Verzweifelte manchmal. Nicht oft. In dem Ort Heroldsheid nahe Nürnberg starb ein Arzt, der dort in einem schloßähnlichen Haus, das ihm gehörte, ein Heim für alte Leute geführt hatte. Es war in den letzten zwei Jahren leergestanden, weil jener Arzt es nicht mehr hatte leiten können. Bei der Eröffnung des Testaments erlebten die Erben eine Überraschung: Der Arzt hatte bestimmt, daß das Gebäude neunundneunzig Jahre lang an eine Organisation vermietet werden sollte, die sich um kranke Kinder kümmert.
Da war also nun eine Schule! Ja, aber die Miete?
Die Erben verlangten siebentausend Mark im Monat.
Die verzweifelten Eltern waren mittlerweile bedenkenlose Hasardspieler geworden. Es gab auch Begüterte unter ihnen. Und Herrn Leitner, den Bankmenschen, der Kredite besorgte. Fachkräfte wurden angestellt, nachdem das Heim zur Schule für Behinderte umgebaut worden war. Dadurch geriet man bis an den Hals in Schulden. (Und steckte immer noch drin.) Aber die Schule begann zu arbeiten, nachdem die Sache mit den Taxis, den Autobussen und tausend andere Einzelheiten durchorganisiert waren. Und nun stand man auch in ständigem Kontakt mit der ›Bundesvereinigung LEBENSHILFE für
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