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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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weiß es, alt und totenmüde geworden bin ich in dieser Welt der Alpträume. Jene zu kleinen Füße …
    Dieser Mann hat nicht ein einziges Dokument bei sich getragen. Wir müssen erkennungsdienstlich feststellen, wer er ist. Alles, was dieser Mann in den Taschen hatte, waren ein Ring mit drei Schlüsseln, 85 US-Dollar und 30 Cents sowie zwei Traveller-Schecks zu je 100 Dollar. Die Moran sagt nicht, wer er ist. Die Moran ist nicht bei Sinnen. Versteinert in Entsetzen und Grauen war ihr Gesicht noch gewesen, als ich kam. Eine Pistole hatte sie in der Hand gehalten (bis Hauptwachtmeister Vogel sie ihr endlich abnahm), eine Pistole Marke Walther, Modell TPH, Kaliber 6.35 mm …
    »… er macht die andern Männer ganz nervös mit seiner tollen Chronique scandaleuse …«
    Schritt um Schritt tat Sondersen auf dem staubigen Dielenboden mit den unzähligen Rissen, Splittern, Sprüngen, dunklen Flecken. Einen Teppich gab es nicht. Die Nummerntäfelchen, Hilfsmittel der Beamten seiner Mordkommission, waren noch da, an langen, dünnen, spitzen Nägeln befestigt wie Demonstrationsplakate en miniature. Im ganzen Zimmer waren diese Täfelchen verteilt – beim Bett, beim Bidet, mitten im Raum, nahe der Stelle, an welcher der Mann zusammengebrochen war. Fünfzehn Täfelchen, und sie trugen, schwarz auf weißem Grund, die Zahlen 1 bis 15. Marken für die Bilder des Fotografen, für die Männer, die das Zimmer mit Zirkel und Lineal im Grundriß auf Papier zu zeichnen hatten, Spezialisten, die an tausenderlei denken mußten, an Spuren, Entfernungen, Streuwinkel, Winkelgrößen.
    Behutsam wanderte Sondersen an den Grenzen des Körpers entlang, so nah wie möglich, so achtsam wie möglich. Vom Kopf bewegte er sich weiter neben der rechten Schulter, sodann den rechten abgewinkelten Arm an dessen Außenseite entlang – im Vorwärtstasten ging er auch genau um den Winkel der Armbeuge. Dann war er bei der rechten Hand. Dann wanderte er auf Zehenspitzen die Innenseite des rechten Arms empor, drei kurze Schritte.
    Kehrt.
    Nun an der rechten Körperseite entlang abwärts. Brust. Bauch. Oberschenkel. Das rechte Bein war unnatürlich verdreht, nicht gebrochen, obwohl man es glauben konnte. Dauernd wechselte Sondersen um dieses Bein die Richtung. Immer zierlicher wurden seine Schritte. Der rechte Unterschenkel, Außenseite. Um den rechten kleinen Fuß herum wieder – auf Zehenspitzen hinauf die Innenseite des rechten Unterschenkels nun, die Innenseite des rechten Oberschenkels.
    Halt. Kehrt.
    Nun ganz hinab die Innenseite des linken Oberschenkels, des linken Unterschenkels, des linken so kleinen Fußes. Und wieder empor an der linken Körperseite – der Mann war auf den Rücken gestürzt.
    Sondersen hätte nicht angeben können, warum er diesen makabren Spaziergang machte. Etwas zwang ihn dazu – Instinkt, gewonnen in Jahrzehnten. Neben der linken Brustseite blieb er stehen, neigte sich vor und betrachtete das Blut.
    »… bist nicht klug, doch sehr galant, bist kein Held, nur ein Mann, der gefällt …«
    Sondersen richtete sich auf und machte einen weiteren Schritt, stets bedacht, kein Stückchen Kreidelinie zu verwischen oder gar auf sie zu treten. Nun stand er wieder beim Kopf dieses Mannes, der überhaupt nicht da war, nein, nur noch sein Blut.
    Bloß eine Kreidezeichnung, festhaltend die Lage dieses Mannes mit dem abgewinkelten rechten Arm und dem so häßlich verdrehten rechten Bein. Zeigend einen Mann ohne Ohren, Augen, Nase, Mund und Haar, einen Mann, bestehend aus Nichts, aus dünner, übelriechender Luft, aus leerem Raum. Einen Schattenriß. Einen Scherenschnitt. Einen Mann, der nun kein Mann mehr war, nein, längst nicht mehr. Der jedoch hier gewesen war, in diesem Raum, an dieser Stelle, ja, aus festem Fleisch und warmem Blut, atmend und sprechend, denkend, lauschend, handelnd, voller Leben, bis dann seine Stunde schlug. VULNERANT OMNES, ULTIMA NECAT – so schrieben sie einst auf ihre Sonnenuhren, dachte Sondersen. ALLE VERWUNDEN, DIE LETZTE TÖTET.
    Die letzte Stunde, die diesen Mann getötet hatte, als seine Zeit gekommen war, war diese gewesen: 17 Uhr 13 Minuten und 44 Sekunden am Montag, dem 8. Oktober 1973. Tief segelten schwarze Wolken über Nürnberg, allein es regnete nicht, auch nicht vor nun mehr als dreidreiviertel Stunden. 17 Uhr 13 Minuten 44 Sekunden.
    ULTIMA NECAT.
    Seine Zeit.
    Da nämlich war dieser Mann auf den Dielenboden aufgeschlagen, war das Glas seiner Armbanduhr zersplittert und hatte

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