Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
Vom Netzwerk:
Herbstnacht, tief segelten schwarze Wolken, doch es regnete nicht, immer noch nicht, den ganzen Tag lang schon wartete Sondersen auf Regen.
    »… bei den Frau’n, Bel ami! Soviel Glück bei den Frau’n, Bel ami …«
    Von irgendwoher kam Musik, der Gesang einer Frauenstimme. In einem anderen Zimmer dieses ›Hotels‹, das den Namen ZUM WEISSEN RAD trug, hatte wohl jemand ein Radio angedreht.
    »… bist nicht schön, doch charmant, bist nicht klug, doch sehr galant …«
    Zuerst sind sie alle auf den Gängen gewesen, dachte Sondersen, haben sich greisenhaft-lüstern, in geilem Entsetzen, voll wollüstigen Grusels vor dieser Zimmertür gedrängt, haben versucht einzudringen, daran gehindert von dem alten Zuhälter, der hier als Portier untergekrochen ist, von Polizisten und zwei Hausdienern, einem Jugoslawen und einem Türken, haben durcheinandergeschrien, gekeucht, rote Flecken auf grauen Wangen, mir rasend schnell aus nächster Nähe sinnlose Mitteilungen, gehässige Verdächtigungen ins Gesicht geflüstert, speichelsprühend manche, mit üblem Atem andere, acht Huren und ihre Kunden, dann sechs alte Paare, er und sie, Schlafrock, herabgerutschte Strümpfe, hängende Hosenträger, Pantoffeln, ein Mann tatsächlich nur mit einer halben Zahnprothese, seine Frau mit schlaffen Brüsten gleich leeren Säcken unter dem klaffenden Morgenmantel – keine Zeit, keine Zeit für den Büstenhalter, für die zweite Prothesenhälfte, herbeigerannt, gestolpert, schnell, schnell, schnell, nachdem der Schuß gefallen war, das Unerhörte nicht zu versäumen, nie wieder kam derartiges hier vor, nie war es vorgekommen je! und dann auch noch, bleich, hohlwangig, mit tränenden, brennenden oder stumpfen Augen, verklebten Haaren, ewig rinnenden oder auch zum ewigen Schnuppern zwingenden ausgetrockneten Nasen andere – mit uralten Gesichtern, dummdreist oder blöde, so jung, so jung und doch schon gar nicht mehr von dieser Welt: einige Burschen, einige Mädchen, in alten amerikanischen Armeejacken, durchlöcherten Pullovern, dreckigen Blue Jeans, zerfetzten Cordhosen, billigsten weißen Hemden, bedruckt mit den Namen der größten Zeitungen der Welt – all jene, die, wie die alten Leute, hier ständig wohnten, in diesem Hause an der letzten Straßenbahnstation des Lebens, nach ihr kam keine.
    »… du verliebst jeden Tag dich aufs neu, alle küßt du und bleibst keiner treu …«
    Dann, einer nach dem andern, waren sie zurückgeschlurft, gehumpelt, getorkelt, geschlichen in ihre Zimmer, still plötzlich, nicht mehr lüstern, entsetzt, wollüstigen Grusels voll, nein, nun voller Angst plötzlich, verwickelt zu werden, hineingezogen in das Furchtbare, sie alle – die Alten ohne Hoffnung, die einander haßten und dennoch nie mehr verlassen würden, dachte der Hauptkommissar Sondersen, nicht mehr verlassen würden, weil sie keine Kraft mehr hatten, keinen Weg mehr sahen. Und sie, die Jungen – Stricher, Spritzer, Kokser, Ausgeflippte –, sie, die Huren, die um ihre Karte bangen mußten, immer, sie, ihre tristen Kunden, ein Buchhalter, ein Baupolier, ein Brillenschleifer, ein Speditionsabteilungschef,, ein Wohlfahrtsbeamter (Namen K-S), ein Totengräber (ja, auch davon gab es einen, wußte Sondersen inzwischen), ein Pfandleiher, sie alle mit ihren kleinen Wünschen und ihren großen Sorgen, die sie zu Hause ungeliebte Frauen und widerliche Gören wartend wußten. Nun lang schon wieder leer waren die Gänge mit ihrem Lysol- und Uringeruch …
    »… doch die Frau, die dich liebt, machst du glücklich wie noch nie! Bel ami, Bel ami, Bel ami …«
    Und dabei hatte der Mann noch Schuhe an, dachte Sondersen. Man kann also gar nicht sagen, wie sehr zu klein die kleinen Füße sind. Ich muß mir das ansehen, dachte er, wenn sie ihm jetzt die Schuhe ausgezogen haben, wenn er da liegt, nackt, auf diesem Tisch aus Stein …
    »… ich kenne einen netten jungen Mann, der gar nichts ist und nichts Besonderes kann …«
    Alles an diesem Menschen ist wohlproportioniert, dachte Sondersen. Auch noch in seinem Alter, seinem Elend. Wohlproportioniert alles. Nur die Füße sind zu klein. Sondersen empfand einen üblen Geschmack im Mund, dazu ein Gefühl der ohnmächtigen Erbitterung. So kleine Füße, dachte er, das ist böse. Ich weiß nicht, warum ich das glaube, aber es ist böse, gewiß. Natürlich bin ich mehr als aufgeregt. Denn der andere Mensch, den man erstarrt vor dem Liegenden angetroffen hat, den ich, ich noch so angetroffen

Weitere Kostenlose Bücher