Niemand ist eine Insel (German Edition)
Stunden-, Minuten- und Sekundenzeiger zum Stillstand gebracht.
»… doch die Frau, die dich liebt, machst du glücklich wie noch nie, Bel ami, Bel ami, Bel ami!« Das Orchester setzte ein, brachte das Lied zu Ende. Jählings war es totenstill. Auch von der Straße herauf klang kein Laut. Anders war das gewesen, als Sondersen im Wagen der Mordkommission gekommen war. Da hatten sich die Neugierigen unten auf der Straße vor dem Eingang gedrängt, hatten fast die Milchglasscheiben der Tür eingedrückt. 17 Uhr 55 war es da gewesen, er hatte auf seine Uhr gesehen. Um 17 Uhr 32 war der Anruf zu Sondersen im Präsidium durchgelegt worden – der Anruf jenes Polizeireviervorstehers, der einen Mord meldete.
Der magere, große Hauptkommissar mit dem eisgrauen Haar, das wie ein Fell um seinen Schädel lag, dieser Hauptkommissar Sondersen war, bevor das Telefon schrillte, eben dabei gewesen, auf dem großen Kalenderblatt, das an der Innenseite einer Lade eines Karteikastens klebte, diesen 8. Oktober 1973 mit rotem Stift auszustreichen – wie so viele, viele Tage vor diesem Datum, es blieben nur noch wenige offen im Jahr 1973. Er hatte den Tag ausgestrichen und dann erst den Hörer des schrillenden Telefons abgehoben. Und damit war dann dieser Tag nicht wirklich ausgestrichen und vorbei, nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas, das den Hauptkommissar Sondersen daran hindern würde, am 31. Dezember 1973 endgültig in Pension zu gehen, traurig geworden im Kampf mit dem absolut Bösen, traurig und hoffnungslos, weil man keine Hoffnung haben konnte gegenüber dem absolut Bösen. Ganz kurze Zeit vor seiner Pensionierung, die er so sehr herbeisehnte, hatte der Hauptkommissar Sondersen noch einmal aktiv werden müssen, war es ihm nicht erspart geblieben, im Zimmer 39 des Stundenhotels ZUM WEISSEN RAD noch einmal dem absolut Bösen zu begegnen.
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D ie Untersuchung des Mordes nahm ihren routinemäßigen Verlauf. Die Beamten verhörten alle Bewohner des Hauses und nahmen ihre Personalien auf. Der jugoslawische Hausdiener sprach zum Glück auch deutsch und türkisch und konnte für seinen Kollegen dolmetschen. Der Fotograf. Der Mann vom Erkennungsdienst. Die Spurensicherer. Erste Untersuchung der Leiche durch den Notarzt. Der Tod war sofort eingetreten. Der Abtransport der Leiche des Unbekannten. Sondersen hatte in diesen Stunden von der Portiersloge aus viel telefoniert. Der ED-Mann, wieder in seinem Labor, konnte mit den Fingerabdrücken des Ermordeten nichts anfangen. Höchste Stellen mußten darum alarmiert werden – es handelte sich immerhin um Sylvia Moran …
Also gingen sofort über Fernschreiber, Hellschreiber und Funkbildgeräte alle verfügbaren Angaben, den Toten betreffend, hinaus an Polizeidienststellen – nicht nur in Deutschland. Einmal im Hinblick auf die Person Sylvia Morans, zum andern, weil der Portier Josef Kunzinger behauptete, der Mann sei Amerikaner gewesen, ordnete Sondersen die sofortige Einschaltung von INTERPOL an. In 120 Ländern der Erde wurde nun nach diesem Unbekannten gefahndet. Man brauchte schnellstens einen Ballistiker. Durch einen glücklichen Zufall war der berühmte Schießsachverständige Dr. Walter Langenhorst wegen eines anderen Falles in München. Also Telefonat mit München. Langenhorst versprach, sofort nach Nürnberg zu kommen. (Mittlerweile hatte sich auch der Untersuchungsrichter eingeschaltet und gab seinerseits Anweisungen.) Man brauchte einen psychiatrischen Sachverständigen, der später Auskunft über Sylvia Morans Geisteszustand zum Zeitpunkt der Tat oder jedenfalls knapp danach geben konnte, wenn es zum Prozeß kam, denn Sylvia Moran behauptete ja einerseits, den Unbekannten erschossen zu haben, andererseits, sich an nichts erinnern zu können. Für solch sensationellen Fall brauchte man begreiflicherweise einen sehr bekannten Sachverständigen. Sondersen hatte mit Professor Eschenbach von der Psychiatrischen Universitätsklinik im nahen Erlangen telefoniert.
Dieser war schon unterwegs nach Nürnberg. Die Massenmedien forderten Information. Sondersen hatte eine Erklärung, so kurz wie möglich – aber der Name Sylvia Moran mußte natürlich erwähnt werden –, telefonisch mit dem Sprecher des Polizeipräsidiums verfaßt. Im Präsidium fand gewiß bereits eine Pressekonferenz statt. Und so weiter, und so weiter. Beamte blieben im Hotel zurück. Sondersen hätte zuletzt gehen können, gehen müssen – im Krankenhaus, in das man Sylvia gebracht hatte,
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