Niemand ist eine Insel (German Edition)
benötigte man ihn sicherlich, desgleichen im Präsidium. Sondersen war in der Absteige geblieben. Er war schwer benommen, wie vor den Kopf geschlagen, er konnte nicht fassen, was geschehen war. Sylvia Moran …
Sondersen, in dem Tatzimmer, stand nun reglos dort, wo die Kreidebahn den Kopf der Leiche, die nicht mehr da war, umrundete und sah starr auf das Blut, das viele Blut; das schon in den Dielenboden eingesickert war, aber noch feucht schimmerte. Ich habe gefühlt, daß ich die Spur entlanggehen muß, dachte Sondersen, ich habe gewußt: Hier fehlt etwas …
Mit einem großen Schritt trat Sondersen über die Kreidelinie des Kopfes hinweg, bis zu der Blutlache. Er kniete nieder. Beugte sich vor, ganz tief war sein Gesicht jetzt über das Blut geneigt. Dann sah er deutlich, was er unscharf schon aus der Entfernung gesehen hatte. Inmitten der Blutlache gab es zwei seltsame, nicht vollständige Linien, die sich, wie von einem scharfen Gegenstand, in den Boden gedrückt hatten. Sie zeigten, wenn man sie sich vollständig dachte, kleine, ovale Flächen, die aneinanderhingen. Nach einer Seite hin wurden sie schmäler im Rund – wie Eier. Und Hühnereigröße etwa hatten auch die beiden Einprägungen im Dielenboden. Darüber war Blut verschmiert, man mußte sehr gute Augen besitzen, um die Eindrücke zu erkennen. Sondersen besaß immer noch sehr gute Augen. Hier also hatte etwas gelegen, das schien sicher. Nun war es nicht mehr da. Wo war es? Warum hatte keiner seiner Leute es entdeckt?
Immer noch in der Hocke, sah Sondersen sich im Zimmer um, grübelnd, von der Tür zum Fenster, zurück zur Tür. Wo konnte, was fehlte, was man nicht gefunden hatte, sein? Weggenommen in Heimlichkeit? Verborgen in rasender Eile? Sondersens Blick erreichte die alte Kommode. Sie stand ohne Beine direkt auf dem Boden, vor der Wand neben der Tür.
Sondersen erhob sich. Mit sanften, gleitenden Bewegungen über die Täfelchen der Spurensicherer hinwegtretend, versuchte er, die Kommode beiseite zu schieben. Sie war viel leichter, als er gedacht hatte. Die Tapete hinter ihr fehlte ganz, hier sah man nur noch den grauen Verputz der Mauer. Wieder kniete Sondersen nieder. Mit einem Taschenmesser unternahm er es, eines der Bodenbretter anzuheben. Es bewegte sich nicht. Auch nicht das zweite. Das dritte bewegte sich. Es war am vorderen Kommodenrand gebrochen. Sondersen hob es hoch. Was er gesucht hatte, lag vor ihm auf der feuchten Schüttung. Na also, dachte Sondersen.
Er ging zu dem Kreidemann zurück, kauerte wiederum nieder, das, was er gefunden hatte, vorsichtig mit zwei Pinzetten haltend. Nun senkte er die Pinzetten langsam. Der Gegenstand schwebte über den beiden eiförmigen Eindrücken im Holz. Noch tiefer senkte Sondersen seinen Fund. Der berührte das Blut auf dem Boden. Die scharfen Ränder paßten exakt in die Eindrücke.
Sondersen erhob sich. Der Gegenstand lag nun in einem Plastiksäckchen. Es war ein Medaillon, aufgeklappt, scharfe Ränder. Dies Medaillon mußte mit den geöffneten Innenseiten auf den Boden gefallen sein, dann war der Mann wohl darauf gestürzt, nach einem schweren Fall. Also, dachte Sondersen, haben sich die Ränder in das Holz geprägt. Somit, dachte Sondersen, hat das Medaillon schon vorher dort gelegen. Jemand muß es fallen gesehen und unter dem Toten hervorgeholt haben – sicherlich keine leichte Arbeit. Das Medaillon war an den Außenseiten blutverschmiert, innen sauber. Der Mann hatte die Außenseiten vollgeblutet. Später, als man das Medaillon entfernt hatte, ist Blut über die nun freien Stellen des Bodens gesickert, nachdem der Mann wieder schwer auf dem Rücken lag, dachte Sondersen.
Wer immer das getan hatte, er hatte es in größter Eile getan. Das Dielenbrett war so gebrochen, daß man es sehen konnte, auch wenn die Kommode an ihrem Platz stand, stellte Sondersen fest, das Möbel zurückschiebend. Jemand vor ihm mußte das gleiche festgestellt und diesen kleinen Gegenstand dann dort versteckt haben, wo Sondersen ihn gefunden hatte.
Der Hauptkommissar stand da, das geöffnete Medaillon in dem Plastiksäckchen, reglos. Nichts auf der einen Seite. Auf der anderen Seite erblickte Sondersen unter Zelluloid ein Farbfoto. Es zeigte das lachende, glückliche Gesicht eines kleinen Mädchens. Und dieses Gesicht kannte Sondersen.
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H alt bloß dein dämliches Maul, du Drecksau!« sagte eine gelassene Männerstimme, als Sondersen aus dem Zimmer auf den übelriechenden Flur trat.
»Du Schwein!
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