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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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Laute und Wörter Martin zu seinem ›Schatz‹ rechnete.
    »Warum haben Sie das getan?« fragte ich Frau Dr. Reinhardt.
    Sie wandte den Kopf ab, und es trat wieder eine Stille ein. Was geht in dieser Frau vor? dachte ich. Ich sah zu Dr. Sigrand auf. Der sah mich an. Eigenartig. Das hielt ich nicht aus. Ich blickte wieder auf das Papier und las weitere Laute und Wörter Martins, las dies:
ja = ja
na = nein
oja = freudige Zustimmung
chchch = läuten, telefonieren, alles, was mit Klingeln zusammenhängt
    Dr. Sigrand sagte: »Die Mutter von Babs fällt zur Zeit aus. Wir dürfen nicht riskieren, ihr so knapp nach dem Lifting …« – und da war reiner Hohn in seiner Stimme – »… eine solche Nachricht zukommen zu lassen, auch wenn sie der Ansicht ist, daß Kinder, die geistig behindert sind, sofort umgebracht werden müssen. Sie könnte uns auffordern, Babs sofort umzubringen, weil die Gefahr besteht – die Gefahr besteht immer, Monsieur Norton –, daß Babs Dauerschäden erleidet. Und wir bringen unsere Patienten nicht um. Das müssen Sie schon entschuldigen. Da muß Mrs. Moran, da müssen Sie uns schon entgegenkommen und Nachsicht üben – wir tun es Ihnen gegenüber schließlich auch.« Und immerfort schien der Mann, der dies sagte, mit Tränen kämpfen zu müssen. »Andererseits haben wir hier im Krankenhaus unsere Vorschriften. Babs kann nicht selbst bestimmen, was mit ihr geschehen, wie sie behandelt werden soll. Babs kann uns nicht berechtigen, nach unserem Ermessen zu tun, was das Beste für sie ist. Das muß jemand anderer tun, Monsieur Norton.« Ich kniff die Augen zu. Das auch noch. »Ich sehe, Sie haben begriffen, Monsieur Norton. Wir können Babs nur hierbehalten, wir können Ihre Wünsche nur erfüllen, wenn jemand da ist, der für Babs verantwortlich zu sein bereit ist …«
    Ich! Ich verantwortlich für Babs!
    »… und der uns schriftlich die gesetzlich vorgeschriebenen Rechte überträgt und jederzeit zu erreichen ist, falls wir seine Einwilligung für besondere Behandlungsarten benötigen.«
    »Was für ›besondere‹ Behandlungsarten?«
    »Die verschiedensten. Also nein?«
    Ich war gefangen, dachte ich. Eine Ratte in der Falle.
    »Was heißt: Also nein?« fragte ich deshalb Sigrand. »Selbstverständlich gebe ich so eine Erklärung ab!«
    Er lachte kurz.
    »Würden Sie dann bitte das Formular ausfüllen, Frau Kollegin?«
    Ich sah zu der Ärztin. Sie hob die Schreibmaschine vor sich, schob dabei ein kleines Spielzeuglamm zur Seite, nahm ein vorgedrucktes Blatt aus einer Lade, spannte es, mit Kohlepapier und Durchschlag, ein und begann: »Name … Norton … Vorname?«
    »Weiß ich nicht mehr«, sagte ich. »Wie heiße ich mit dem Vornamen, Herr Doktor?«
    »Paul«, sagte der.
    »Paul«, sagte und tippte Frau Dr. Reinhardt. »Jetzt natürlich Ihr richtiger Name. Den müssen wir auch haben. Philip Kaven. Haben Sie einen Paß bei sich?«
    »Ja.«
    Ich gab ihn ihr.
    Sie suchte nach der Nummer und tippte diese und den Ausstellungsort des Passes.
    Ich sah auf das Papier, betreffend den Laut- und Wortschatz von Martin, und las dies:
Wauwau = Hund, Katze
Gogo = Huhn
guga = Vogel oder jemand ›hat einen Vogel‹
gdgd = guten Tag
aga = danke
Wenn er den Mund wie zum Küssen spitzt, will Martin etwas
Wenn er den Kopf auf den Tisch legt oder zwischen die Oberschenkel und nicht mehr aufsieht, ist er beleidigt
    »Richtiger Name der Mutter? Sie ist doch Deutsche, und Moran ist ihr Künstlername, nicht wahr?« fragte Ruth Reinhardt.
    »Susanne Mankow«, sagte ich. »Geboren in Berlin am fünfundzwanzigsten Mai 1935.«
    Frau Dr. Reinhardt tippte. Ich las:
Wenn Martin die Zunge herausstreckt, hat er Hunger oder Durst
    »Ständiger Wohnsitz?«
    Ich sagte, wo Sylvia ihren ständigen Wohnsitz hatte.
    Ich las:
Wenn Martin auf den Boden deutet, meint er in der Regel die U-Bahn oder einen Tunnel oder eine Unterführung
    »Zur Zeit Klinik Professor Delamare«, sagte und tippte Dr. Reinhardt.
    Ich fuhr auf.
    »Hören Sie …«
    »Es wird niemand erfahren. Das bleibt unter Verschluß. Für immer«, sagte Sigrand.
    »Wo wohnen Sie zur Zeit, Monsieur Norton?«
    Ich sagte es. Dr. Reinhardt tippte es.
    Ich las:
Wenn Martin mit einem Arm zur Schulter greift, bedeutet das Schule (Schulranzen)
    Die Ärztin sprach und tippte: »… gibt mit der Unterschrift dieses Formulars die Zustimmung zu allen oben angeführten Punkten betreffend … Hier müssen wir auch den richtigen Namen einsetzen …« Sie tat es.

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