Niemand ist eine Insel (German Edition)
Ruth Reinhardt ist, da ich dies schreibe, 1973, fünfunddreißig Jahre alt und unverheiratet. Wie sie mir später einmal sagte, hatte sie natürlich von Zeit zu Zeit eine Affäre mit einem Mann, wenn ihr der Mann gefiel. Nicht von Zeit zu Zeit, sondern immerzu indessen verlangte es Ruth nach Wissen, nach Forschen, nach Wahrheit. Sie hat selber kein Kind, aber ich erinnere mich, daß sie einmal zu mir sagte: »Alle Kinder, die man zu mir bringt, sind meine Kinder! Jede Gesundung macht mich glücklich und reicher. Jede Verschlechterung, jeder Tod macht mich unglücklich und ärmer, und es ist ganz gleich, ob ich es mit halbwegs normalen Kindern zu tun habe oder mit solchen, bei denen sogar ich zuerst zweimal die Augen schließen muß, wenn ich sie zum ersten Mal sehe.«
Ruth Reinhardt ist – heute kann ich das alles (mit elend unzulänglichen Worten immer noch!) beurteilen – nicht schön im landläufigen Sinn des Wortes, etwa wie Sylvia Moran. Eines hat sie allen Frauen, die ich kenne, voraus: ihr Lachen. Sie hat das wundervollste, von Herzen kommende Lachen, das ich je gesehen habe. Aber eben nur vor Kindern. Vor kranken Kindern. So groß ist die Kraft dieses Lachens, daß sogar die ärmsten ihrer armen Kranken, die Spastiker, die völlig in der Entwicklung Zurückgebliebenen, einstimmen in Ruths Lachen – später habe ich das oft beobachtet. Es wird Ihnen auffallen, mein Herr Richter, daß ich diesen Bericht in zweierlei Stilen schreibe: So wie eben – und dann auch wieder frech, rotzig, schweinisch. Ich kann offenbar bei der Schilderung jener im Dunkeln, von denen ich eingangs sprach, bei der Schilderung jener unermüdlichen Selbstlosen, durch nichts zu Entmutigenden in der ›Welt nebenan‹, die ich von nun an kennengelernt und von der ich bislang keine Ahnung gehabt habe, meinen mir zugehörenden Stil nicht beibehalten. Ich schreibe, nein es schreibt dann anders. Ich bin, nach Ruth Reinhardt, noch vielen Menschen ihrer Art begegnet. Sie war die erste. Ich bitte um Vergebung, wenn das, was ich jetzt noch zu sagen habe, pathetisch klingt. Ich sage und schreibe nur, was ich heute wirklich empfinde:
Ruth Reinhardt ist eine Frau, die alles verschenkt. Es ist ihr einerlei, wen sie beschenkt. Wichtig ist ihr das Schenken – und das will in ihrem Fall heißen: das Helfen. Und das will heißen: Sie verschenkt sich selbst. Ich werde, bis an mein Ende, dieser Ruth Reinhardt gedenken als einer Frau, die, so fürchte ich, stets und immer weiter mehr gibt, als es klug für sie ist, zu geben – bis an ihr Ende.
Das, mein Herr Richter, möge Ihnen einen – sehr unvollkommenen – Eindruck von der Frau geben, der ich an jenem Vormittag des 25. November 1971 im Hôpital Sainte-Bernadette in Paris gegenübersaß. Einen Eindruck von Ruth Reinhardt …
37
I ch danke Ihnen, Frau Doktor«, sagte ich, als Dr. Sigrand den Raum verlassen hatte. »Was hat dieser Arzt bloß gegen mich? Ich habe ihm doch nichts getan! Warum behandelt er mich so?«
Ruth Reinhardt sagte: »Auch Ärzte sind nur Menschen, Monsieur Norton. Doktor Sigrand war zwölf Jahre verheiratet. Sie hatten einen Sohn, Spastiker. Jahr um Jahr klammerte sich Doktor Sigrand noch an die Hoffnung, etwas könne besser werden mit seinem Sohn – nur ein kleines bißchen besser. Dann, vor zwei Jahren, mußte er einsehen, daß bei seinem Sohn niemals auch nur das geringste besser werden wird. Er ist Arzt, er weiß Bescheid. Dieser Sohn hat keinerlei Chance.«
»Das tut mir leid«, sagte ich.
»Doktor Sigrand fand sich damit ab – heldenhaft.« Die Ärztin spielte mit dem Lämmchen. »Stellen Sie sich das einmal vor, Monsieur Norton: Sigrand leitet hier ein Krankenhaus, das solchen Kindern hilft, manche gesund, viele gebessert entläßt – und selber hat er ein Kind, das ein armseliges Bündel Leben ist, unfähig, jemals das geringste für sich zu tun.«
»Ich verstehe jetzt«, sagte ich.
»Nein, Sie verstehen noch nicht, Monsieur Norton! Vor einem halben Jahr kam Doktor Sigrand darauf, daß seine Frau ihn seit langem mit einem anderen Mann betrog, daß sie ihr behindertes Kind haßte und vernachlässigte. Der andere Mann – das war der Zufluchtsort dieser armen Frau.«
»Sagten Sie ›armen‹ ?«
»Gewiß, Monsieur Norton. Natürlich war diese Frau arm. Arm und verzweifelt. Man darf niemals einen Menschen zu schnell verdammen. Alle Menschen haben Gründe für das, was sie tun. Doktor Sigrands Frau verlor die Nerven. Es muß schlimm gewesen sein,
Weitere Kostenlose Bücher