Niemand ist eine Insel (German Edition)
als ihr Mann sie zur Rede stellte. Sie sagte, sie könne das Kind nicht mehr ertragen und, ja, da sei ein anderer Mann. Noch in der gleichen Nacht verließ sie die gemeinsame Wohnung und zog zu ihrem Liebhaber. Die Ehe wurde geschieden. Das Kind wurde Doktor Sigrand zugesprochen, der, wenn er nun einen Arbeitstag hier hinter sich hat, heimfährt zu seinem unheilbar kranken Kind.«
»Jetzt verstehe ich.«
»Sie verstehen noch immer nicht«, sagte. Ruth. »Der Mann, zu dem Madame Sigrand ging, ist viel jünger als Doktor Sigrand. Ein reicher, verwöhnter Junge. Jet-Set heißt das, nicht wahr? Hat ein Vermögen geerbt. Mit ihm lebt Madame Sigrand jetzt, teils in Paris, teils an der Côte d’Azur. Für ihren Mann ist sie nicht mehr zu sprechen. Ihr Liebhaber hat immer nur von fremdem Geld gelebt und wird es immer weiter tun.«
»Wie ich«, sagte ich.
»Das geht mich nichts an. Ich wollte nichts anderes tun als Ihnen erklären, warum Doktor Sigrand – ein wunderbarer Mensch – Sie so behandelt, Monsieur Norton. Wäre Doktor Sigrand nicht diese Sache mit seiner Frau passiert – und ausgerechnet auch noch mit einem solchen Mann –, er wäre niemals derart beleidigend zu Ihnen gewesen.«
Ausgerechnet in diesem Moment wurde nach kurzem Klopfen die Tür aufgerissen. Ein Arzt streckte den Kopf herein und begann atemlos: »Ruth, jetzt haben die Terroristen erklärt, daß sie sofort mit dem Umlegen anfangen, wenn sie nichts zu essen und trinken kriegen und …« Er brach ab. »Verzeihung! Ich wußte nicht …« Die Tür fiel wieder zu.
Ruth Reinhardt schien die Unterbrechung überhaupt nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Sie lehnte sich vor. »Passen Sie einmal auf: Den meisten Menschen fehlt einfach das Begreifen auf diesem Gebiet – das Begreifen aufgrund von Erfahrung und Erleben.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Das Begreifen«, sagte sie noch einmal. »Das heißt, die Menschen wissen nicht, wie man sich derart kranken Kindern – erschrecken Sie bitte nicht, es geschieht alles, damit Babs wieder gesund wird, aber ihre Reaktionen bislang sind typisch –, wie man sich also derart behinderten Kindern gegenüber verhalten soll. Viele schlimme Entgleisungen auf diesem Gebiet entspringen allein größter Verlegenheit. Die Menschen sind sehr wohl voller Mitleid. Sie erkennen sehr wohl sogleich, daß sie ein behindertes und kein ungezogenes Kind sehen. Aber sie wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen! Verstehen Sie?«
»Ja, Frau Doktor.« Jetzt sprachen wir deutsch.
»Entweder sie starren das Kind bewußt an, weil sie so etwas noch nie gesehen haben – oder aber sie haben so etwas schon einmal gesehen und wissen, da ›hat man‹ nicht hinzustarren. Das ist ein ebenso unnatürliches Verhalten und wird von den betroffenen Eltern prompt als Ablehnung gewertet.«
»Ich verstehe.«
»Ich sage immer in meinen Vorlesungen: Es wäre so wichtig, den Menschen zu zeigen – an praktischen Beispielen der Art ›So kann man’s auch machen!‹ –, wie man mit behinderten Kindern natürlich umgeht. Das ist sehr schwer, ich weiß es, denn viele dieser Kinder sehen zum Teil ungewöhnlich aus, bewegen sich ungewöhnlich, betragen sich ungewöhnlich, sind zum Teil abstoßend. Ein großes Problem.« Sie seufzte. »Aber nur so kann man den Menschen das Schuldgefühl und die Verlegenheit, die sie solchen Kindern gegenüber empfinden, nehmen, glaube ich. Warum sehen Sie mich so an, Herr Norton?«
Ich sagte ergriffen (wahrhaftig zum ersten Mal in meinem Leben echt ergriffen, mein Herr Richter, ich war es nicht mal bei dem Tod meiner Eltern noch bei irgendeiner anderen Gelegenheit zuvor): »Weil mir das so sehr einleuchtet, Frau Doktor.«
»Schön«, sagte sie. »Schauen Sie: Ekel, Abscheu, Ablehnung … das ist doch alles in Wahrheit nur Hilflosigkeit diesen Kindern gegenüber, das ist die Folge von Schuldgefühlen, ja, Schuldgefühlen, weil man eben nicht begreifen kann …« Begreifen – das war offenbar ein Lieblingswort von Ruth Reinhardt. »Weil ich nicht begreife und mich darum schuldig fühle, reagiere ich ablehnend, böse, forsch …« Sie sah das viele bunte Spielzeug im Zimmer an, ihre Stimme wurde leiser: »Oft ist es natürlich auch nur Gedankenlosigkeit …« Sie senkte den Kopf. »Und dazu kommt: Sehr viele Eltern werden außerdem noch furchtbar bestraft. Ehen gehen zu Bruch – siehe Doktor Sigrand –, das Schuldgefühl wird unerträglich, ebenso die Verzweiflung. Wissen Sie, wie viele
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