Niemand ist eine Insel (German Edition)
aujourd’hui …«
»Warum ist das schlimmer?«
»Die Art der Behandlung wird komplizierter. Viren sind schwerer zu behandeln als Bakterien. Aber wir schaffen auch das vielleicht. Wir haben es schon so oft geschafft.«
»Frau Doktor Reinhardt ist Kinderärztin und Spezialistin auf dem Gebiet der Neurologie. Darum habe ich sie hinzugezogen«, sagte Sigrand.
Ich nickte.
»… pour le plus petit, le plus pauvre fils, merci, Dieu, merci, pour ce paradis …« klang die Geisterstimme in meinen Ohren.
Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. Ich war unrasiert.
»Natürlich haben wir noch viele andere Untersuchungen angestellt«, sagte die Ärztin. »Weiße Blutkörperchen stark vermehrt. Druck der Gehirnflüssigkeit …«
Dieu! Dieu! Dieu!
»… Gott sei Dank nicht erhöht. Urin untersucht. Und so weiter. Die Behandlung hat bereits begonnen.«
»Womit?«
»Immunglobulin, Antibiotika«, sagte die Ärztin mit ihrer ruhigen Stimme. »Ähnliche Mittel wie Penicillin. Intravenös. Cortison-Derivate. Und anderes.«
»Wie lange?«
Ich hielt es hier kaum noch aus. Mir war zum Erbrechen schlecht. Was geschah mit mir, wenn …
»Das kann kein Mensch sagen, Monsieur Norton.« Mein intimer Feind Sigrand. Mit Genuß. Natürlich Unsinn. Aber nun haßte ich ihn auch. Ja, mit Genuß hat er das gesagt, dachte ich – unzurechnungsfähig durch meine Angst um mich und meine Wut auf Sigrand, durch meine Übelkeit.
»Sie müssen Ihre Fassung wiedergewinnen«, hörte ich von weit her Frau Dr. Reinhardts Stimme. »Ihre Hand ist kalt, kälter als Eis.« Da erst bemerkte ich, daß sie meine Linke in ihre Rechte genommen hatte, als wolle sie mich stützen. Sie zog ihre Hand zurück.
»Und die Genesungschancen?«
»Wir kriegen Babs durch, Monsieur Norton«, sagte die Ärztin. »Wir wissen nur noch nicht, wie diese Medikation anschlägt! Ein wenig Geduld müssen Sie jetzt schon haben!«
Ein wenig Geduld …
Ô Dieu, merci.
»Es kann aber doch auch sein, daß Sie Babs durchbringen und daß Schädigungen zurückbleiben … schwere eventuell …«
»Sehen Sie, Monsieur Norton, es ist wirklich noch zu früh für irgendwelche Prognosen, es geht sehr oft alles gut vorbei.«
»Und sehr oft nicht, Frau Doktor Reinhardt«, erwiderte ich grob.
»Sehr oft auch nicht, Monsieur Norton.«
»Gut«, sagte ich. »Dann wissen wir ja alle Bescheid. Dann muß ich Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen. Ihnen habe ich sie schon nachts angekündigt, Herr Doktor Sigrand. Es ist – unter diesen Umständen – eine Geschichte von allergrößter Bedeutung.«
»Wir hören, Monsieur«, sagte Sigrand.
»Hier nicht. Nicht hier«, sagte ich. »Und vorher muß ich unbedingt telefonieren.« Bracken brauchte Bescheid, der wartete schon die ganze Nacht und den ganzen Morgen.
»Dann gehen wir in mein Zimmer«, sagte die deutsche Ärztin.
Ich neigte mich über Babs. Kein Laut. Ich legte vorsichtig eine Hand in ihren Nacken. Er war schweißnaß und heiß.
»Das Fieber ist noch gestiegen«, sagte Frau Dr. Reinhardt.
»Arme, kleine Babs«, sagte ich. Als ich das sagte, mein Herr Richter, empfand ich Haß, soviel Haß wie noch nie im Leben und wie niemals mehr nach diesem Morgen. Haß auf Babs. Ich weiß, daß ich dachte: Nun hast du mir also auch das noch antun müssen, du Kröte.
»Sie lieben das Kind sehr, Monsieur Norton, ja?« fragte Frau Dr. Reinhardt.
»Unendlich, Frau Doktor«, sagte ich. »Als ob es mein eigenes wäre.«
Sie nahm mich am Arm und führte mich zur Tür, die sie öffnete. Ich drehte mich noch einmal um, während ich schon meine dunkle Brille hob, die mich schwerer erkennbar machen sollte. Ich sah zurück zu Babs, und ich weiß, daß ich dachte: Vielleicht stirbt sie doch noch. Und ich weiß, was ich sofort danach dachte: Scheiße! Es sterben immer die falschen Menschen.
Die Tür schloß sich hinter uns dreien. Wir standen auf dem Gang. Wir gingen ihn hinunter, durch die ganze stille Station. Dann kamen wir in den Trakt, den ich schon kannte. Hier lagen die Verwaltungsbüros, die Sprechzimmer der Ärzte. Hier war es laut.
Eine Schwester lief vorbei. Sie rief: »Michele! Der Japaner ist jetzt in Schiphol! Die Terroristen haben das Ultimatum verlängert und noch keinen erschossen! Komm! Sie haben Schiphol und die Botschaft im Bild!« Die Geiselnahme in Den Haag. Die hatte ich schon vergessen gehabt.
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L iebe Frau Dr. Reinhardt!
Nachstehend erhalten Sie den Laut- und Wortschatz unseres Martin, damit Sie und Ihre
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