Niemand ist eine Insel (German Edition)
»… Babs – das ist Barbara, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich.
»… geborene Barbara Mankow … wann und wo, Monsieur Norton?«
»Fünfter September 1962, Beverly Hills«, sagte ich.
Sie tippte das, und ich las, jetzt bereits so benommen vor Wut und Hilflosigkeit, daß ich kaum mehr wußte, was ich tat, zum Beispiel, daß ich wie ein Idiot immer weiter diesen Elternbrief las, dies:
Mit den Füßen strampeln bedeutet bei Martin Gymnastik
»So«, sagte Dr. Reinhardt. »Das Datum der Einlieferung …«. Sie tippte und sprach: »Fünfundzwanzigster November 1971 …«
Ich las:
Sollten Sie, liebe Frau Doktor, nicht verstehen, was Martin sagen will, geben Sie ihm bitte einen Zettel mit!
36
F rau Dr. Reinhardt hatte wohl bemerkt, daß ich immer auf diesen Elternbrief starrte, und so sagte sie, während sie das Formular aus der Maschine drehte: »Das ist aus meiner Nürnberger Praxis.« Dann gab sie mir das Papier und einen Kugelschreiber: »Unterschreiben Sie bitte Original und Durchschlag. Mit Ihrem richtigen Namen, Auf der Linie rechts unten.«
Ich nahm den Kugelschreiber. Meine Hand zitterte so stark, daß ich sie mit der andern stützen mußte, während ich schrieb. Trotzdem wurde die Unterschrift nur eine Kritzelei, ähnlich denen auf der Schultafel. Damit also, dachte ich, hast du dein Todesurteil unterschrieben, so oder so. Nein, dachte ich. Nicht so oder so. Man soll nicht zu schwarz sehen. Babs kann sterben. Dann ist es kein Todesurteil. Babs kann auch ganz gesund durchkommen. Dann ist es gleichfalls kein Todesurteil. Wenn Babs natürlich durchkommt und so ähnlich am Leben bleibt wie dieser Martin, dann allerdings ist es dein – Moment mal, dachte ich, bist du schon weich, Kaven? Wieso ist es überhaupt unter irgendeiner Konstellation dein Todesurteil? Wenn es mit Babs so wird wie mit Martin, kannst du doch noch immer abhauen und …
Nein! dachte ich. Nein, o nein, das kannst du dann eben nicht mehr, Kaven! Dann bist und bleibst du in der Scheiße. Also doch ein Todesurteil. Aber, dachte ich sofort (ich war stets Optimist, mein Herr Richter), da sind immerhin zwei positive Möglichkeiten gegen eine negative. 2:1. Was denn? 2:1! War doch eine enorme Chance, daß alles gutging, wenn die Ärzte richtig spurten. Oder wenn Babs abkratzte. In beiden Fällen stand ich dann vor Sylvia so selbstlos heldenheldisch da wie nie zuvor.
Die Ärztin hatte die Formulare durchgesehen, nun überreichte sie die Papiere Dr. Sigrand. Dieser Mensch sagte kein Wort, nickte seiner Kollegin zu und ging aus dem Zimmer. Solange die Tür offen war, hörte ich eine Männerstimme, laut: »… drei von den Geiseln herzkrank, zwei zuckerkrank und keine …« Die Tür hatte sich hinter Dr. Sigrand geschlossen. Ich blickte Frau Dr. Reinhardt an. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, sah ich richtig ihr Gesicht.
Dieses Gesicht, mein Herr Richter, so zu beschreiben, daß Sie auch nur einen halbwegs richtigen Eindruck bekommen, fehlen mir auch heute noch die Worte, und das um so mehr, als ich damals, an jenem Morgen, vollkommen anders dachte und fühlte – wie, das beschreibe ich ja in diesem Bericht. Ich kann Ihnen versichern, mein Herr Richter: An jenem Morgen gab es wohl nichts, was mir gleichgültiger gewesen wäre als das Gesicht dieser Frau Dr. Ruth Reinhardt aus Nürnberg. Und was ich heute, trotz der großen Veränderung, die in mir vorgegangen ist, über dieses Gesicht sagen kann, ist unzureichend, ach so unzureichend. Dennoch will ich es versuchen.
Ruth Reinhardt hat kastanienbraunes Haar, das sie ziemlich kurz geschnitten trägt, und sie hat kastanienfarbene Augen mit erstaunlich langen Wimpern. Die Haut ist sehr hell und rein. Der Mund ist groß. Die Backenknochen sitzen hoch und geben dem Gesicht einen slawischen Ausdruck. Ruth hat schöne Zähne, kleine, anliegende Ohren und eine kleine, gerade Nase.
Sie hat das – ich suche nach dem am wenigsten ungenauen Wort –, nun ja, wohl das disziplinierteste Gesicht, das ich jemals gesehen habe. Ein hellwaches Gesicht, von sehr großer Intelligenz geprägt, von Toleranz und Einfühlungsvermögen auch noch in ärgste Geschehnisse. Ein trauriges Gesicht, mein Herr Richter. Traurig wie die Gesichter von Menschen, die sehr viel Leid gesehen und miterlebt haben. Gleichwohl immer noch voller Kraft. Ich habe, mein Herr Richter, diese Ärztin im Gespräch mit Erwachsenen nie lachen sehen. Im Gespräch mit Kindern sah ich sie nur, immer, bei jeder Gelegenheit , lachen!
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