Niemand ist eine Insel (German Edition)
solcher Eltern dem Alkohol verfallen? Wissen Sie, wie viele sich das Leben nehmen? Besonders wenn sie ihre Kinder ablehnen, wenn sie sie von sich stoßen oder verstecken … Von diesen Eltern kommt niemand ungestraft davon, wenn er nicht den Weg zur Rückkehr findet …« Sie stand auf und begann in dem vollgeräumten Zimmer zwischen dem vielen Spielzeug hin und her zu gehen, die Hände in den Taschen ihres weißen Mantels, an der Brust baumelte ein Stethoskop. »Wir müssen dahin kommen, Herr Norton, daß unsere Gesellschaft so aufgeschlossen ist, auch Menschen völlig zu integrieren, die niemals in der Lage sein werden, die gleichen Leistungen zu erbringen wie die gesunden …«
Mein Gott, dachte ich, das alles hatte Sylvia damals in Monte-Carlo gesagt, das alles hat Rod Bracken für sie aufgeschrieben, nun erlebe ich es!
»Unsere Welt«, sagte Ruth Reinhardt, »ist eben – und das muß das Ziel der Aufklärung sein – nur komplett, wenn in ihr auch Platz ist für alte, hilflose Menschen, für hirngeschädigte Kinder, für Blinde, Taube, psychisch Kranke, Tippelbrüder – was Sie wollen. Erst dann wird es eine gute Welt sein, wenn der Gesunde weiß: Es ist nicht mein Verdienst oder meine Würdigkeit, gesund zu sein! Genausogut könnte ich krank sein wie dieses Kind da. Und zweitens: Es ist auch meine Verantwortung, die Kranken nicht nur hier …« – sie wies auf ihr Herz – »… sondern hier …« – sie wies auf ihre Stirn – »… zu verstehen. Das ist die Hoffnung, die ich habe. Diese Hoffnung aber, Herr Norton, setzt ein Umdenken voraus! Weg von dem Schema, daß nur der ein Mensch ist, der etwas verdient und etwas leistet! Diese Haltung, wie sie immer noch besteht, ist unmenschlich und menschenunwürdig!«
»Ja«, sagte ich. »Aber was ist nun mit Babs? Ich habe das Gefühl, daß die Gefahr sehr groß ist.«
Darauf schwieg sie.
»Antworten Sie mir! Habe ich recht mit meiner Vermutung?«
»Sie könnten recht haben, Herr Norton. Ich will Sie nicht belügen. Babs ist sehr krank. Ich habe Ihnen gesagt, hier geschieht alles, um sie wieder gesund werden zu lassen. Aber …« Ihre Stimme versickerte.
»Aber die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen«, sagte ich.
Sie sah mich stumm an, direkt in die Augen, dann senkte sie langsam den Kopf.
»Danke«, sagte ich.
»Danke wofür?«
»Danke dafür, daß Sie mir die Wahrheit gesagt haben.«
38
U nd immer noch tobte der Sturm über Paris.
Die Sonne war verschwunden, der Himmel schwarz. Im Hof unten sah ich schwarze, kahle Bäume. Ruth drückte auf den Knopf der Schreibtischlampe. Das Licht flammte auf. Ruth sagte: »Sie, Herr Norton, sind das Produkt Ihrer Umgebung und Erziehung. Ich werde mir niemals erlauben, Kritik daran zu üben, wie Sie mit Sylvia Moran leben. Ich denke, als das Produkt eben jener Erziehung und Umgebung konnten Sie gar keinen anderen Weg gehen.«
»Sie haben heute, als Doktor Sigrand mich weckte, gesagt, Sie würden sich freuen, mich kennenzulernen!«
»Das tat ich auch.«
»Weshalb?«
»Weil Sie Babs hergebracht haben. Weil Sie die Nacht durch auf der Bank geschlafen haben. Weil Sie nicht einfach ausgerissen sind oder sich gedrückt haben.«
»Das konnte ich doch nicht!«
»Der Mensch kann alles an schmutzigen Dingen tun und alles an schönen«, sagte Ruth Reinhardt. »Sie sind bei Babs geblieben, Herr Norton. Darüber war ich froh. Darum war ich glücklich, Sie kennenzulernen. Denn nach all den Illustrierten-Geschichten hatte ich einen anderen Eindruck von Ihnen gewonnen.«
»Das kann ich mir denken«, sagte ich.
»Wir würden alle anders reagieren, wenn wir die Schicksale unserer Mitmenschen kennen würden. Ich hatte mir vorgenommen, Ihnen meine Ansicht über Sylvia Moran und das, was Sie da in Monte-Carlo in der Garderobe von sich gab, mitzuteilen, wenn wir allein sind.«
»Warum?«
»Weil ich Sylvia Moran absolut verstehe«, antwortete Dr. Ruth Reinhardt aus Nürnberg.
Ich starrte sie an.
»Zunächst einmal: Was Sylvia Moran da vor den Kameras sagte, hat man ihr vorgeschrieben, nicht wahr? Sie hat es als die große Schauspielerin, die sie ist, gesprochen. Warum ist sie denn überhaupt auf die ganze Sache eingegangen? Weil man ihr eingeredet hat, das gebe eine ungeheuere, nie wiederkehrende Publicity. Nun, Sylvia Moran ist im Show-business. Warum sollte sie also nicht auf ihre Berater hören? Was wissen Sie von Sylvia Moran? Was wissen Sie wirklich von ihr, Herr Norton?«
»Na, doch ziemlich alles,
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