Niemand kennt mich so wie du
brodelte, und sie konnte seinen Schmerz fühlen. Mit einem zuckersüßen Lächeln im Gesicht wandte sie sich an seine Mutter.
«Ach wissen Sie, wir haben natürlich vor, einander treu zu sein, aber im Grunde wird Paul sich immer auch ein wenig nach einem Schwanz sehnen. Tja, aber das ist ganz normal, denke ich», sagte sie.
Pauls Mutter blieb der Mund offen stehen. Sie ließ die Gabel fallen und blickte um sich, als würde sie Stimmen hören. Pauls Bruder Alan lachte laut auf, und seine Frau stimmte in das Gelächter ein. Wie zwei kleine Kinder versuchten sie danach krampfhaft, sich das Lachen zu verbeißen, doch das machte es nur noch schlimmer. Paul saß da und grinste von einem Ohr zum anderen.
«Ich liebe dich», sagte er zu Simone.
«Ich dich auch», antwortete sie und gab ihm einen Kuss. «Und zwar genauso, wie du bist.» Dabei sah sie seine Mutter an, die inzwischen zur Salzsäule erstarrt war.
Pauls Vater sagte gar nichts. Pauls Coming-out hatte ihn schwer getroffen, doch im Laufe der Jahre hatte er sich informiert, und außerdem besaß er nicht die religiösen Bedenken seiner Frau. Er hatte sich damit abgefunden, einen schwulen Sohn zu haben, der jetzt bisexuell war, heiraten und ein Kind bekommen würde. Es war alles ein bisschen viel für ihn. Er las zwar ein paar Informationsbroschüren, doch die warfen mehr Fragen auf, als sie beantworteten. Himmel, man müsste ja direkt studieren, um diese Dinge zu kapieren. Er wusste weder, was er fühlen, noch, was er sagen sollte, also sagte er nichts. In dieser Beziehung war Paul seinem Vater sehr ähnlich. Im Zweifel sagte er nichts und hoffte, dass die Dinge sich von selbst erledigten.
«Glaubst du, Eve wird auf unserer Hochzeit tanzen können?», fragte Paul Clooney beim vierten Bier, das ihm ein wenig die Zunge löste.
«Vielleicht.»
«Warum fragst du? Willst du sichergehen, dass es jemanden gibt, der noch schlechter tanzt als du?», fragte Gar.
«So in der Richtung», antwortete Paul, doch das war nicht alles.
Paul mochte zwar nicht so häufig über seine Gefühle sprechen, doch das bedeutete nicht, dass er keine intensiven Gefühle besaß. Eves Unfall hatte ihn tief erschüttert. Er hatte sie gerade erst wiedergefunden, und dass er sie um ein Haar so plötzlich und auf so dramatische Weise wieder verloren hätte, hatte ihn schwer getroffen. In Eves Gesellschaft konnte er auf seine stille Weise immer er selbst sein. Sie akzeptierte ihn so, wie er sich gab. Heterosexuell, schwul, bi, schweigsam, geheimniskrämerisch – nichts davon schien sie zu stören. Eve gestattete jedem zu sein, wie er war. Entweder sie mochte einen, oder sie mochte einen nicht. Sie war sein Gegenpol, und ihre offene Art, ihre Stärke und ihr Selbstvertrauen gaben ihm Trost. Ihre schonungslose Ehrlichkeit und ihre Unbekümmertheit inspirierten ihn. Hinter seiner ruhigen, kühlen Fassade war Paul ein hoffnungslos sentimentaler alter Sack. Eves Beinahetod hatte Paul daran erinnert, dass er in Simone und dem Kind zum ersten Mal seit langer Zeit Liebe und Sicherheit fand, und er hatte schreckliche Angst, all das zu verlieren. Was, wenn ich das gar nicht verdient habe? Was, wenn sie mir genommen werden? Was, wenn ich sie enttäusche? Nach Eves Unfall hatte Paul schlaflose Nächte, in denen er sie sterbend auf der Straße liegen sah, Simone neben Eve, das Baby in ihrem Arm, blutüberströmt. Er war schreiend aufgewacht, und Simone lag neben ihm, um ihn zu beruhigen und zu trösten.
Eines Nachmittags, als sie allein waren, erzählte er Eve von seinen Albträumen. Es war das erste Mal, dass er sich ihr gegenüber richtig öffnete und etwas sehr Persönliches preisgab, und falls Eve bemerkte, dass dies einen Meilenstein in ihrer Beziehung markierte, ließ sie sich nichts anmerken.
«Angst zu haben, ist doch völlig normal», sagte sie.
«Ich habe Angst, sie im Stich zu lassen», sagte er.
«Wieso?»
«Weil …»
«Weil was?»
«Du weißt schon, warum.»
«Darf ich ehrlich sein?», fragte sie.
«Du bist immer ehrlich.»
«Ich weiß. Aber ich frage trotzdem um Erlaubnis, weil das, was ich zu sagen habe, ziemlich hart ist.»
«Okay?», sagte er zögerlich.
«Du glaubst, dass du nicht gut genug für sie bist, weil du von einer ignoranten, feindseligen Frau großgezogen wurdest, die dir jeden Tag deines Lebens erzählt hat, dass etwas mit dir nicht stimmt, weil du auf Männer stehst. Du musst endlich begreifen, dass du besser und stärker bist als sie, und du musst aufhören,
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