Niemand kennt mich so wie du
sie drei Koffer mit allem, was sie besaß. Den Schmuck nahm sie nicht mit. Bis auf ein paar Perlenketten, die Daisy im Kunstunterricht für sie gemacht hatte, ließ sie alles da. In einen Koffer packte sie Fotoalben und die alte Schuhschachtel mit Eves Briefen und Bildern. Zwanzig Minuten später war sie bereit zu gehen. Die Kinder blieben bei ihrem Vater in der Küche, und Lily ging, ohne sich zu verabschieden.
Sie sah nicht, wie Declan seine Tasse in die Spüle pfefferte und nach oben rannte, sobald sie gegangen war. Sie sah nicht, wie Daisy weinte und Scott nach der Hand seiner kleinen Schwester griff. Sie wurde nicht Zeugin, wie ihr Sohn binnen einer einzigen Nacht erwachsen wurde, weil er instinktiv verstand, dass er ab jetzt die Rolle seiner Mutter übernehmen musste, die darauf vertraute, dass er sich an all die unzähligen verregneten Nachmittage erinnerte, als sie dem kleinen, neugierigen Jungen, der noch gern Zeit mit seiner Mutter verbrachte, das Kochen beigebracht hatte, während er auf dem Küchentresen hockte. Lily sah nicht, wie er morgens seine Schwester weckte und auf dem täglichen Weg in die Werkstatt verlässlich die Hemden seines Vaters in die Reinigung brachte und wieder abholte. Sie hörte nicht, wie Declan seine Launen an den Kindern ausließ, wenn er so sehr in Selbstmitleid versank, dass er sich nur Erleichterung zu verschaffen wusste, indem er den Schmerz, den er spürte, weitergab. Sie hörte die hässlichen Dinge nicht, die er sagte, wenn er ihnen die Schuld daran gab, dass ihre Mutter mit einem anderen Mann durchgebrannt war.
«Wenn ihr bessere Kinder gewesen wärt, klüger, fröhlicher.»
«Wenn ihr nicht so große Klappen hättet.»
«Wenn du nicht jeden Tag von morgens bis abends auf diesem dämlichen Klavier rumklimpern würdest.»
«Wenn ihr beide nicht eine so dermaßen abgrundtiefe Enttäuschung wärt.»
In diesen ersten Nächten lag Lily allein in Eves Schlafzimmer wach, fragte sich, wie das Leben ihrer Kinder ohne sie war und wie lange es dauern würde, bis sie ihr gestatten würden, es wieder ein bisschen besser zu machen. Ich muss alles besser machen.
Nach jenem ersten Tag und der ersten Nacht, als Clooney sie im Arm gehalten hatte, ihr flüsternd Mut gemacht, sie sanft auf den Kopf geküsst und ihr Haar gestreichelt hatte, hielt er sich im Hintergrund. Er gab ihr Raum, um zu heilen, seelisch und körperlich. Auf keinen Fall wollte er sie verletzen, Druck auf sie ausüben oder ihr Angst machen. Lily ging durch eine ganz besondere Hölle, eine Hölle, die für Mütter reserviert war, die von ihren Kindern getrennt waren. Clooney hatte das schon oft gesehen, aus ganz unterschiedlichen Gründen, und trotzdem sah es immer gleich aus. In ihrem Blick lagen Resignation und Schuld, die er ihr auszureden versuchte, obwohl er wusste, dass es ihm nicht gelingen würde. In jenen ersten Tagen blieb Lily für sich, bis auf die Mahlzeiten, wenn er dafür sorgte, dass sie sich an den Tisch setzte und aß, ganz gleich wie wenig sie herunterbekam. Lily musste ihre Dämonen bekämpfen, und er trat in den Hintergrund, gab ihr geduldig die Zeit, ihren Kampf zu führen, und wartete auf den Tag, da sie den Sieg davontrug.
Eve war weniger geduldig. Nach neun Wochen im Krankenhaus wollte sie nun endlich unbedingt entlassen werden. Sie war rastlos und gelangweilt, und obwohl sie immer noch schwach auf den Beinen war, hatten die Physiotherapeuten ganze Arbeit geleistet und ihre Mobilität zumindest teilweise wiederhergestellt. Das Laufen bereitete ihr große Schwierigkeiten, die Schulter schmerzte noch immer, und sie litt an Muskelschwund, aber sie konnte sich den täglichen Hausbesuch eines privaten Physiotherapeuten leisten. Die zweite Schulteroperation, von der Adam lange gesprochen hatte, erwies sich endgültig als unnötig, und wenn sie nach Hause kam, würden sich gleich zwei Menschen um sie kümmern.
Adam überbrachte ihr die Neuigkeiten, dass Lily Declan verlassen hatte. Declan hatte mit seinem Angriff bis zu Lilys letztem Arbeitstag gewartet. Sie hatte eine Woche frei, und als Clooney nicht kam, hatte Eve sich nichts weiter dabei gedacht. Sie vermutete, er würde einfach einen Tag freimachen, vielleicht um Paul zu helfen, der von Simones Liste zu erledigender Hochzeitsvorbereitungen völlig überfordert war. Sie befand sich gerade in London, um mit ihren Modelfreundinnen einen vorzeitigen Junggesellinnenabschied zu feiern. Die beiden planten eine kleine Trauungszeremonie mit einer
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