Niemand kennt mich so wie du
wann genau ihre Entlassung endlich vonstattengehen würde. Er war still und bleich und lächelte nicht, obwohl Adam immer lächelte, wenn er sie sah.
«Was?», fragte sie und befürchtete einen Augenblick lang, dass irgendetwas ihre Entlassung in nächster Zukunft doch noch verhinderte.
«Es geht um Lily», sagte er.
«Was ist mit Lily?»
Ihr Herz fing an zu rasen, denn sie hatte diesen Tonfall schon öfter in ihrem Leben gehört: damals, als ihre Mutter und ihr Vater krank geworden waren, und auch, als Ben nur noch ein Organspender war. Sag es mir! , schrie sie innerlich, doch es kam kein Ton heraus. Sie wappnete sich gegen das Schlimmste. Adam fühlte sich sichtlich unwohl und war unsicher. Er wusste nicht, ob er Lilys ältester Freundin die sehr privaten Neuigkeiten über Lily erzählen durfte. Doch schließlich wohnte Lily momentan in ihrem Apartment und war ganz offensichtlich ihrem Bruder zugetan. Außerdem fühlte er sich Eve verbunden, nicht nur als ihr Arzt, sondern auch als Freund. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich zu ihr hingezogen und war vielleicht sogar ein bisschen in sie verliebt. Er war es ihr schuldig, die Wahrheit zu sagen, und die beiden Menschen, die sich im Augenblick in ihrem wunderschönen, sterilen Penthouse mit Meerblick aufhielten, schuldeten ihr ebenfalls die Wahrheit. Außerdem wollte er ihre Meinung hören. Eve sah die Dinge immer so klar und unverstellt. Er wusste nur nicht, wie er es sagen sollte. Es verursachte ihm regelrecht körperliches Unbehagen. Die Worte schienen in seiner Kehle festzustecken, und er konnte ihr die Ungeduld vom Gesicht ablesen.
«Er …»
«Er was?» Sie wusste sofort, dass Declan etwas getan hatte.
«Er …»
«Leidest du etwa plötzlich an einer Sprechblockade? Was?»
«Er hat sie vergewaltigt.»
Eve wurde auf einen Schlag bleich. «Woher weißt du das?» Sie klang heiser. Ihre Stimme zitterte ein wenig, und jemand, der sie nicht gut kannte, hätte es sicher nicht bemerkt. Doch Adam fand, dass er sie nach den neun sehr intensiven Wochen, die sie miteinander verbracht hatten, inzwischen ziemlich gut einschätzen konnte.
«Er hat ihr die Schulter ausgerenkt, Lippen und Gesicht waren geschwollen, er hat sie unten …» Er war zwar Arzt, aber er konnte es trotzdem nicht aussprechen, weil Lily seine Freundin war. Obwohl sie verheiratet war, sich wahrscheinlich in Eves Bruder verliebt hatte und obwohl er selbst inzwischen Gefühle für Eve hegte, lag Lily ihm sehr am Herzen. Die Vorstellung, wie sie gelitten hatte, war für ihn unerträglich.
«Wo ist sie jetzt?» Eve schaltete augenblicklich in ihren Organisationsmodus.
«In deiner Wohnung.»
«Wo sind die Kinder?»
«Bei ihm.»
«Sie können auch nicht alle in der Wohnung leben», sagte sie. «Wo ist Clooney?»
«Er kümmert sich um Lily.»
«Okay», sagte sie und nickte. «Um den Rest kümmere ich mich.»
«Überrascht dich das gar nicht? Bist du gar nicht schockiert?»
«Nein. Es überrascht mich nicht», sagte sie. «Und Declan Donovan hat mich bereits vor sehr langer Zeit zum ersten Mal schockiert. Wie geht es ihr?»
«Sie behauptet, es ginge ihr gut.»
«Sie wird es packen. Sie ist im Handumdrehen wieder sie selbst. Wenn das passieren musste, um sie endlich von ihm wegzukriegen, auch gut.»
«Er hat die Kinder. Er wird versuchen, sie zu vernichten, und sie will die Vergewaltigung nicht nutzen, um zurückzuschlagen.»
«Verstehe. Keine Sorge, um den kümmere ich mich», sagte sie.
Als Adam sicher war, dass Eve nicht vorhatte, einen Killer zu engagieren, ließ er sie allein, damit sie anfangen konnte zu telefonieren und die Sache in die Hand zu nehmen. Hier lag Eves große Begabung. Der Unfall hatte ihr mit Gewalt die Kontrolle über ihr Leben entrissen, und neun Wochen waren eine viel zu lange Zeit. Die Zicke war zurück.
Sieh dich vor, Declan, jetzt komme ich, du widerliches Arschloch!
Vier Tage nach der Vergewaltigung wurde Eve endlich entlassen. Der Neurologe kam zu einer letzten Visite und stellte Frage um Frage, ehe Adam endlich die Entlassungspapiere unterschrieb. Sie antwortete ihm zum größten Teil wahrheitsgemäß, aber bei einigen Fragen log sie doch. Sie wollte endlich da raus!
«Ist Ihnen manchmal schwindlig?»
«Nein.»
«Sehen Sie Doppelbilder?»
«Nein.»
«Muskelzuckungen?»
«Nein.»
«Veränderter Geruchssinn?»
«Nein.»
«Was ist mit den Kopfschmerzen?»
«Die hatte ich schon immer.» Eve war sich absolut im Klaren darüber, dass die Krankenakte
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