Niemand kennt mich so wie du
gesehen haben. Außerdem war da wohl noch mehr im Gange als nur Geknutsche. Die Tratschtante hat dem letzten Anrufer nämlich erzählt, dass die Jungs sich gegenseitig die Hände in die Hosen geschoben hätten. Jedenfalls hat er zusammen mit dem Italiener die Stadt verlassen, und keiner weiß, wohin. Ich kenne das Mädchen zwar nicht, aber sie soll eine tolle Sängerin sein und den Kirchenchor leiten. Ich bin schwer versucht, Sonntag zur Messe zu gehen, nur um sie mir anzusehen. Das ist auch so toll daran, alleine zu leben – meine Mutter kann mich nicht mehr zwingen, zur Kirche zu gehen.
Ach, und noch eine allerletzte Sache. Neulich habe ich einen Mann gesehen, der genauso aussah wie Danny, und das hat mich daran erinnert, dass ich ihn vermisse. Bitte grüß ihn von mir.
***
Als Lilys Schockstarre sich endlich löste, rannte sie den Flur hinunter, stieg in den Lift und drückte den Knopf für das Erdgeschoss. Die Tür brauchte eine Ewigkeit, um sich zu schließen. Mach schon, mach schon, mach schon, mach schon! Sie rannte zur Aufnahme und wartete ungeduldig, während die Rezeptionistin einem Besucherpärchen den Weg zur Station St. Claire im vierten Stock erklärte. Mach schon, mach schon! Sobald die beiden Platz machten, lehnte sie sich über den Schalter.
«Ich bin auf der Suche nach Ben Logan», sagte sie.
Die Rezeptionistin tippte den Namen ein und schüttelte den Kopf.
«Hier ist niemand, der so heißt», sagte sie.
«Sind Sie sicher?»
«Keine Grogans da.»
«Logan. L, O, G, A, N.»
«Okay, Logan. Ah ja, da ist er ja.»
«Wo?»
«Auf der Intensivstation.»
Lily nickte langsam und ging schweigend davon, doch sobald sie außer Sichtweite war, fing sie wieder an zu rennen. Sie hatte keine Zeit, auf den Lift zu warten, denn der würde sowieso voll sein, wenn sie die Menschentraube in der Eingangshalle betrachtete. Scheibenhonig mit Reis! Sie entschied sich für die Treppe. Sie rannte zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf und schaffte es in zwei Minuten und ohne Herzinfarkt.
Olivia Castle war im Dienst. Sie hatte im vergangenen Jahr aus der Orthopädischen Chirurgie auf die Intensivstation gewechselt.
«Olivia!» Lily war erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu sehen.
«Hey, Fremde, was treibt dich denn auf die Intensiv?»
«Ben Logan», sagte sie.
«Er liegt in der 3. Was brauchst du?»
«Nichts eigentlich. Ich kenne ihn von früher.»
«Oh.»
«Und?», fragte Lily.
«Er hat ein schweres Schädeltrauma.»
«Wie schwer?»
«Er liegt im Koma und wird künstlich beatmet.»
«Prognose?»
«Nicht gut.» Sie schüttelte den Kopf.
«Oh», sagte Lily, und ihr sank der Mut. «Ist es okay, wenn ich eine Sekunde zu ihm reingehe?»
«Nur zu. Und, Lily? Es tut mir leid.»
«Danke.»
Lily betrat den Raum. Sie erkannte Ben sofort wieder. Im Gegensatz zu Eve hatte er keine Gesichtsverletzungen. Er hatte die schwersten Verletzungen am Hinterkopf davongetragen. Als Eve ihm aus der Hand gerissen wurde, war er mit dem Kopf zuerst gegen die Steinmauer geschleudert worden. Ben war von einer Wand aus Apparaten umgeben. Unter der Bettdecke kamen Schläuche heraus, die in diverse Auffangbehälter mündeten. Lily fühlte sich unwohl. Sie stand da wie ein unheilverkündender Racheengel. In dem Zimmer war es stickig warm, so viel Sport wie beim Lauf die Treppe hinauf hatte Lily seit Jahren nicht betrieben, sie hatte schlecht geschlafen, Ibuprofen auf nüchternen Magen genommen, und als ihr plötzlich schwindlig wurde, konnte sie nur noch kurz Scheibenkleister denken. Dann kippte sie um.
Sie kam jedoch sofort wieder zu sich und stand auf, ehe irgendjemand was mitbekam. Sie setzte sich auf einen Stuhl und legte den Kopf auf die Knie. Was geht hier vor? Eve Hayes und Ben Logan, nach all den Jahren?
Olivia betrat mit einer Frau das Zimmer. Sie war stumm und wirkte verzweifelt. Der Blick der Frau fiel auf Lily. Lily hob den Kopf, sprang augenblicklich auf und wäre um ein Haar gleich wieder ohnmächtig geworden.
«Lily ist eine alte Freundin von Ben, Fiona», sagte Olivia zu der bleichen, zitternden Frau.
Als sein Name fiel, wanderte der Blick der Frau zum Bett. Ben war derjenige, der im Sterben lag, doch sie sah aus wie ein Geist. Lily merkte, dass sie hier absolut nichts verloren hatte.
«Aha?», sagte Fiona, ohne ihren Mann aus den Augen zu lassen. «Er hat nie was von Ihnen erzählt.»
«Das ist ewige Zeiten her», sagte Lily. «Ich war eher so was wie eine entfernte Bekannte.»
«Aha», sagte sie wieder.
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