Niemand
von Nina ab. Erschöpft sank sie zu Boden und sah mit an, wie ein grimmig dreinblickender Zwerg ein Netz um den weinenden Trauerkloß zurrte. Mit einem Fingernagel, länger als der Finger, an dem er wuchs, stach der Zwerg dem Trauerkloß in den Bauch. Pfffffffffffffffffft. Der Kloß schloss die Augen und schrumpfte zu einem faltigen Ballon zusammen, aus dem mehr und mehr die Luft entwich.
Er war tot!
Eine wahrheitsgemäß gewittrig aussehende Hexe sah auf Nina herab und beäugte sie misstrauisch. Sie trug eine Gewitterwolke als Hut, aus der Blitze in den Boden einschlugen und jeden fernhielten, der ihr zu nahe trat. Anstelle von Haaren teilte sich ein Regenschleier links und rechts von ihrem faltigen Gesicht und floss im Dauerregen an ihr hinab.
»Endlich hat es ein Ende mit dieser elendigen Heulerei. Wir nehmen ihn mit und machen daraus Giftgnocchi. Das wird uns für die nächsten Wochen versorgen. Köstlich! Köstlich!«
Der Giftzwerg schulterte sich die Reste des Trauerkloßes, und obwohl er viel kleiner war und unter der Last vollständig verschwand, bewegte er sich zügig vorwärts. Die Gewitterhexe folgte ihm. Gemeinsam zogen sie von dannen und hinterließen eine von Regen durchnässte Spur.
»Geht es dir gut?« Nina spürte Niemands Atem an ihrem Ohr und kurz darauf seine Finger, die über ihr Gesicht strichen. Dann schwebte eine winzige Wimper direkt vor ihrem Mund. Nina pustete sie fort, ohne sich etwas zu wünschen, denn ohne Fräulein Klimper ging dieser Wunsch nicht in Erfüllung.
Nun hatte sie schon zwei Wünsche frei.
7.
Niemand hatte sich nie zuvor gesorgt, weder um sich selbst, schon gar nicht um seinen Vater oder seinen Onkel, und es war ihm auch egal gewesen, was aus den Niemandsländern werden würde. Vielleicht hätte er sich um seine Mutter Sorgen gemacht, wenn er sie gekannt hätte. Aber nun war Nina da, und er hatte um ihr Leben gebangt. Dieses Gefühl war stark gewesen und hatte seinen Körper beherrscht. Er wollte nach Menthol riechen – Menthol stand für Mut und Stärke –, doch er verströmte den Gestank von überreifen Bananen, Salmiak und sauren Gurken und roch nur für kurze Zeit nach Pfeffer, als die Wut überhandnahm.
Längst ebbten die Gerüche ab, sie verflogen nicht vollständig, doch der leckerlieblichzuckersüße Erdbeergeruch überdeckte sie, als Nina ihn zaghaft anlächelte. Dabei war ihr Lächeln viel leckerlieblichzuckersüßer als wilde Erdbeeren.
»Geht es dir gut?«, fragt er sie erneut und half ihr auf.
Sie nickte. »Er ist tot, und ich bin schuld.«
Ihre Augen schwammen in Tränen.
»Wie kommst du darauf?«
»Weil sich alles verändert, seit ich da bin, und viele Wesen unterwegs sind. Das hast du gesagt! Und er auch!«
Niemand schwieg. Und für einen Moment – nur diesen winzig kleinen Augenblick – war er froh, dass Nina aufschrie und er ihr eine Erklärung schuldig blieb. Doch als er den Grund ihres Hilferufs erkannte, wünschte er sich, die Zeit eine halbe Minute zurückdrehen zu können.
In Ninas rechte Schulter bohrte sich eine E-Mann-Zehe, die aus dem schwarzen Graswald gesprungen sein musste und Nina dorthinein zu lenken versuchte. Bis jetzt war es nur eine, aber es kamen mehr. Viel mehr! Er hörte sie!
Vor vielen Jahren hatten sich die E-Mann-Zehen von den Füßen abgenabelt, Aufstände geprobt und den Graswald zu ihrem Revier ernannt. Dort wilderten sie und schleppten ihre Beute ab, meist junges Gemüse. Doch wer dem Wald zu nah kam, ob alt oder jung, Gemüse oder nicht, wurde von ihnen überfallen und lebendig begraben.
Bisher hatte Niemand nur einmal ihre Bekanntschaft gemacht, er war unvorsichtig und dumm gewesen. Der Kopflose Reiter hatte ihn gerettet. Diesmal wollte Niemand nicht darauf hoffen, dass die Gewitterhexe zur Hilfe eilte oder der Kopflose Reiter aus seiner Starre erwachte, sondern Nina selbst retten. Er sprang vor und zerrte an der E-Mann-Zehe, sie hatte sich fest um Ninas Schulterblatt geklammert und ließ sich trotz aller Mühen nicht lösen. Er umarmte Nina und versuchte sie auf den Weg zu ziehen. Irgendwann musste die E-Mann-Zehe abfallen, sie würde niemals schutzlos und ohne ihre Truppe das offene Niemandsland betreten. Aber es war zu spät. Die E-Mann-Zehe gab einen Warnpfiff von sich. Aus allen Teilen des Gräserwaldes eilten E-Mann-Zehen heran. Fünf Zehen, dann fünfzehn, unzählige. Niemand kämpfte. Auch Nina gab nicht auf, sie trat gegen die näherkommenden E-Mann-Zehen, zertrampelte sie, schoss sie
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