Niemand
wie gut fühlten sich Ninas Finger an, die ihren Hals kraulten.
18.
Beim Anblick der Stromschwimmer war Nina übel geworden, und als sie die Gesichter zu unterscheiden lernte, wusste sie auch die Warnung von Lilly und Niemand besser zu verstehen. Einigen lief Spucke an den Mundwinkeln herab, die sie ständig ableckten, nicht nur die eigene, auch die ihrer Nachbarn und Hintermänner. Manche hatten winzige Mausköpfe und zogen die Schultern ein, andere wankten wie Zombies auf der Schleimspur des Vordermanns voran. Es waren Speichellecker und Schleimscheißer und Duckmäuser, die sie erst bei intensiverer Betrachtung erkannte. Nina war froh, dass ihr die Gesichter der Arschkriecher erspart geblieben waren. Hier im Niemandsland schien alles Wirklichkeit zu sein.
»Gibt es sie bei euch nicht?«, fragte Niemand leise und hielt Nina wie selbstverständlich im Arm.
»Nicht so.«
»Nicht so? Wie dann?«, wollte Lilly wissen.
»Na ja, bei uns gibt es Menschen, die sich so verhalten, also«, sie räusperte sich, »Schleimscheißer und so, aber du siehst es ihnen nicht an.«
»Nur weil ihr nicht richtig hinseht. Das ist die Oberflächlichkeit, die gibt es bei uns auch, aber noch haben wir sie nicht gesehen. Die brauche ich nicht auch noch«, mauzte Lilly.
»Du hättest ja nicht hinter uns her rennen müssen«, meinte Niemand.
Lilly miaute böse auf, drehte ihnen den Rücken zu und vergrub den Kopf unter den Vorderpfoten. Jetzt war sie beleidigt, aber sie würde sich schon wieder beruhigen.
»Ich habe Hunger, aber ich traue mich nicht, nach etwas Essbarem zu fragen«, flüsterte Nina.
»Warum nicht?«
»Weil hier alles so … anders ist.«
»Na, bei uns läuft das Essen nicht herum«, mischte sich Lilly wieder ein.
»Bei uns auch nicht!«, beteuerte Nina.
»Solange ich das nicht selbst gesehen habe, glaube ich dir kein Wort«, bestimmte die Katze für sich, sprang auf und trottete ein Stück voraus. Als Nina und Niemand ihr nicht sofort folgten, drehte sie sich noch einmal um und rief: »Willst du jetzt etwas essen oder nicht? Machen wir einen Abstecher zum Nikolaus, der freut sich über Besuch und sein Essen ist köstlich.«
»Was? Wer? Der Nikolaus?« Nina stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose.
»Ja, der hat das einzige Restaurant hier im Niemandsland. Da ist immer was los. Kennst du ihn?« Niemand klang überrascht.
Nina konnte nicht anders, sie musste lachen. Was war das nur für ein seltsames Land? »Klar. Er kommt am 6. Dezember und bringt uns Süßigkeiten. Jedes Kind will den Nikolaus sehen, aber da es die Eltern sind, die den Nikolaus spielen, weil der eigentliche Nikolaus schon lange tot ist, habe ich ihn noch nie gesehen.«
Lilly starrte Nina an, als hätte Nina einen Knall.
»Es ist wahr!«, bekräftigte sie ihre Aussage.
»Vielleicht lebt er ja auch nur bei uns, weil er von euch die Nase voll hat?«, sagte Lilly.
»Es ist nicht schlimm bei uns. Nur anders.«
»Gehen wir jetzt essen oder quatschen wir weiter, bis uns Frikadellen an den Knien wachsen, wie bei Tusnelda Laberbacke?« Lilly hatte anscheinend auch Hunger. Kein Wunder, schließlich hatte sie die E-Mann-Zehen überwältigt. Und das schien schon eine Ewigkeit her zu sein.
19.
Diesen mit Moos bedeckten und von Tannen gesäumten Weg war Niemand das letzte Mal vor vielen Jahren gegangen. Wie so oft war er damals durchs Niemandsland geschlendert, auf der Suche nach einem Niemandsländer, der ihm etwas über seine Mutter zu erzählen wusste. Sie sei tot, hatte sein Vater ihm gesagt, aber Niemand glaubte nicht daran. Vielleicht war es auch nur die Hoffnung, seine Mutter eines Tages sehen zu dürfen, die ihn an den Worten von Niemand Sonst zweifeln ließ.
Als sein Vater dahintergekommen war, dass Niemand einen ganzen Nachmittag beim Nikolaus verbracht hatte, war er wütend gewesen wie nie zuvor. Eine Woche ließ er Niemand im dunklen Turm schmoren, bis er sich wieder beruhigt hatte und seinen Untertan, den Drecksack schickte, um Niemand freizulassen. Niemand war für seinen Vater stets ein lästiges Anhängsel gewesen, das er füttern musste, weil er herausfinden wollte, wie er den Thron und somit die vollständige Macht des Niemandslandes an sich bringen konnte. Doch nachdem Niemand beim Nikolaus gewesen war, behandelte er ihn, als sei er nichts weiter als ein Niemand und ignorierte ihn vollends.
Heute hatte er keine Angst vor seinem Vater. Er fühlte sich unverletzlich, stark wie das Wurzelmännchen, er
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