Niemand
schwebte neben Nina her und ärgerte sich nicht einmal über Lillys Blicke, die sie ihm zuwarf. Er wusste, dass sie ihn nicht sah, aber seine Gefühle am Geruch wahrnahm. Nicht alle waren dazu fähig, aber Lilly konnte es. Doch das störte Niemand nicht. Sollte sie glauben, was sie wollte.
Das Haus vom Nikolaus stand behütet inmitten eines Tannenhains. Es war eine kleine, aus Brettern zusammengeschusterte Bude mit windschiefem Spitzdach und einer dreieckigen Tür, die viel zu klein wirkte, als dass der Nikolaus mit seinem dicken Bauch hätte hindurchpassen können. Aber er trat in dem Moment aus der Hütte, als Nina, Lilly und Niemand um die Ecke bogen. Die weiße, um den Bauch gespannte Schürze wies Flecke auf: dunkle Soße und Erdbeermus. Ein lauer Wind verbreitete den Geruch von Braten und geräucherten Würstchen.
»Ah, Besucher. Kommt näher, kommt nur. Ihr seid sicher hungrig.«
Niemand beobachtete Nina, die vor Überraschung stehen blieb.
»Ist der echt?«, fragte sie leise.
»Ich kenne nur den einen«, erklärte Niemand, und Lilly fügte hinzu: »Das ist der einzige, wahre Nikolaus.« Sie riss ihre Augen weit auf, als zweifle sie an Ninas Verstand. Nina nickte, schüttelte dann den Kopf. Sie traute ihren Augen nicht. Lilly hob eine Tatze und machte eine ungelenke, aber abwehrende Pfotenbewegung. »Mädchen«, mauzte sie. »Mädchen haben keine Ahnung.«
»Seid ihr zum Zanken gekommen, meine Lieben?«, brummte der Nikolaus freundlich und lächelte unter seinem dichten, weißen Bart, an den Niemand sich vor langer Zeit geschmiegt hatte. Er erinnerte sich noch an den Geruch: Lebkuchen und Zimt, Bratapfel, Plätzchen und Kakao. Ein Gemisch, das ein Gefühl von Sehnsucht in ihm geweckt hatte. Er hatte geweint und den Nikolaus nach seiner Mutter gefragt – so lange, bis Niemands Vater ihn aus den Armen des warmen, gut riechenden Nikolaus wegzerren ließ.
Niemand schloss die Augen und vernahm den penetranten Geruch von Niemand Sonst. Wie er ihn hasste – er war Niemand, aber nicht gefühllos. Als er aufsah, stand Nina dicht bei ihm, blickte allerdings in die falsche Richtung. »Was ist mir dir?«
Er antwortete nicht, zog Nina ein Stück mit sich, ließ sie dann los und ging alleine auf den wartenden Nikolaus zu, der seine Arme weit ausbreitete und Niemand in Empfang nahm. Der Nikolaus sah ihn nicht, aber er spürte, dass Niemand da war.
»Welch Glück, dich unversehrt zu wissen, mein Sohn!«
Niemand war dankbar, dass auch seine Tränen unsichtbar blieben.
20.
Nina hörte ein unterdrücktes Schluchzen. Der Nikolaus schien Niemand fest an sich zu drücken und wiegte sich hin und her, als schaukelte er einen Geist. Lilly strich um ihre Füße, und als sich Nina zu ihr hinunterkniete und sie hinter den Ohren kraulte, schnurrte sie leise: »Niemand mag dich, kleine Nina. Niemand mag dich.«
Das kätzische Geschnurre schien Nina zu verspotten, enttäuscht nahm sie ihre Hand aus dem weichen Fell, dann erst begriff sie, was Lilly meinte; nicht niemand mochte sie, sondern Niemand mochte sie wirklich. Es war aber auch zu verhext mit diesen seltsamen Namen im Niemandsland.
Sie lächelte. Ja, sie mochte Niemand auch.
Der Nikolaus ließ seine Arme sinken und kam auf Nina zu. Sie fühlte sich mit einem Mal in den Kindergarten zurückversetzt, als sie noch an den Nikolaus geglaubt und Angst vor seinem bärtigen Gesicht gehabt hatte. Die buschigen Augenbrauen hatte sie als Vierjährige auch als Bart bezeichnet. Und wie konnte ein Nikolaus einen Bart über den Augen haben? Das war ihr absurd vorgekommen. Außerdem hatte sie geglaubt, er wisse über alles Bescheid, also auch darüber, dass sie mit Ella, einem Mädchen aus dem Kindergarten, gestritten hatte. Sie fürchtete die Zurechtweisung. Tatsächlich hatte der Nikolaus im Kindergarten davon gewusst. Aber dieser hier beugte sich ein Stück zu ihr hinunter, streckte ihr seine große Hand entgegen, die sie schüchtern ergriff.
»Sei willkommen, mein Kind.« Er richtete sich wieder auf, griff sich an den Rücken und stöhnte: »Mein Kreuz. Diese Schmerzen bringen mich noch mal um. Aber setzt euch. Ihr seht hungrig aus!«
Der Nikolaus stapfte wie durch hohen Schnee voran. Lilly stolzierte hinter ihm her, als wäre der Nikolaus ihre Entdeckung. Auch Nina folgte ihm. Er führte sie rechts an seinem Haus und an den in Reihen gepflanzten Tannenbäumen vorbei. Dazwischen zeigte sich eine Lichtung, auf der ein langer Tisch stand, vollgepackt mit dampfenden
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