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Niemand

Niemand

Titel: Niemand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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erschien. Er hatte Schutz in dem Schlund gesucht, der ihn einst geboren hatte.
        

88.

    Der Vollmond versteckte sich hinter den Baumreihen und tauchte Blätter und Äste in ein milchiges Licht. Nina sah nichts bis auf ein paar blinkende Punkte auf dem Schlachtfeld. Und sie war dankbar dafür, denn sie wollte die Wesen nicht sehen, die aus der Dunkelheit gekrochen kamen und sich über die Greislinge hermachten.
    Doch ihre Augen gewöhnten sich zu schnell an die Dunkelheit, und manche Niemandsländer sorgten für Licht. Die Körper der Roboter bestanden aus einem phosphoreszierenden Material, sie leuchteten im Dunkeln, ihre Augen blinkten in bunten Farben. Die Taschenlampe des Nikolaus, mit der er mindestens vier Greislinge erschlagen hatte, erhellte den Weg. Und die Zähne des Ponys, das neben Nina herlief, zeichneten sich leuchtend in der Nacht ab. Es grinste wie ein Honigkuchenpferd.
      
    Die Greislinge wüteten hinter ihnen, aus allen Richtungen kamen Geräusche. Die Nacht lebte. Nur wenige Schritte trennten sie vom Wald. Schreie drangen aus dieser Richtung, in der sie Schutz suchten. Die Niemandsländer stoppten, nicht alle gleichzeitig, einige blieben erst stehen, als sie gegen ihren Vordermann rannten oder nachdem sie bemerkten, dass sie mit einem Mal allein zu sein schienen.
    Aus dem Unterholz des Liebeswäldchens wankte ein Monster auf sie zu. Mannshoch. Rot. Die Statur glich der des Nikolaus, doch sein Gesicht war zu einer Maske des Schreckens verzerrt und wie mit rotem Latex überzogen.
    »Ist das einer von den Nachtmahren?«, fragte Nina den Nikolaus.
    Ein blutiger Kratzer verlief quer über seine linke Wange.
    Er schüttelte den Kopf, paralysiert vor Entsetzen.
    Sie starrten das fremde Wesen an, das im Schatten dieser grausigen Nacht entstanden zu sein schien. Als sei es vom Wahnsinn befallen, kreischte es unentwegt und wankte an den Niemandsländern vorbei auf die Greislinge zu. Es zog eine Schleppe, einer Blutlache gleich, hinter sich her. Aus der Ferne erkannten sie Schatten, die sich aus dem Niemandsland zum Zeitschalter hinbewegten. Statuen, die den erschöpften Niemandsländern zur Hilfe eilten, nachdem der in der Nacht wiedergeborene Admiral aus der Schürze seiner Amme entflohen war und von den Kämpfen berichtet hatte. Nachteulen schuhuten zum Angriff.
    »Kommt!«, meinte ein Roboter, der die Nummer 32 eingestanzt auf dem Rücken trug. Sein blecherner, phosphoreszierender Leib wies Beulen und Schrammen auf. An den Metallfingern klebte Krötenblut und an seine linke Seite presste sich der Kleine Dickkopf – erschöpft und zitternd.
      
    Die Niemandsländer bewegten sich wieder, sie stützten, hielten und trugen sich gegenseitig. Nina half einem Zwerg mit einem riesigen Eierkopf, der einen Arm verloren hatte. Begleitet von einer lähmenden Stille schritten, schlichen und humpelten sie in das Liebeswäldchen, in dem sie sich vor den Greislingen verstecken wollten.
    Die Liebe schien verstorben, die Engel verstummt, die Elfen verschwunden. Alle rosafarbenen Blüten an den Bäumen waren verwelkt. Zahlreiche vertrocknete Blütenblätter säumten den Boden. Es knisterte unter den Füßen der Niemandsländer, die sich besorgt und ängstlich umsahen. Aus den Schatten der Bäume schälte sich ein vierbeiniges Wesen mit einer birnenförmigen Figur.
    »Lilly!« Nina stürzte auf die Katze zu und drückte sie an ihre Brust. Der warme, weiche Körper schenkte ihr Trost.
    »Nicht so fest!«, röchelte sie.
    Nina gab Lilly frei. »Habt ihr ihn erwischt?«
    »Wir nicht, aber die Rote Armee. Habt ihr ihn nicht gesehen? Er ist aus dem Wald rausgewankt wie ein roter Riesensack.«
    Die Niemandsländer, die vorne in der Reihe standen und Lillys Worte gehört hatten, sahen in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
    »Und Petit?«
    »Das ist nicht das Problem. Komm.«
    Doch Nina ging nicht alleine. Alle folgten Lilly. Nicht einer der Niemandsländer wollte zurückbleiben.
    »Ist es denn wahr?«, fragte der Taugenichts.
    »Was?« Lilly miaute leise.
    »Das Raunen des Windes«, antwortete der Nikolaus und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
    Lilly senkte den Kopf und schüttelte ihn, als verneine sie die vom Taugenichts gestellte Frage, doch als sie aufsah, wussten alle, dass der Wind auch dieses Mal nicht gelogen hatte. Ihre Pupillen – groß und schwarz – verschluckten die bernsteinfarbige Iris. Trauer.
    Ein Chor aus Seufzern hallte durch die Nacht und ließ selbst die Greislinge und die

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