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Niemand

Niemand

Titel: Niemand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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Niemands Innerem«, flüsterte Lilly.
    »Dann lebt er noch?« Nina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
    »Seht!«
    Der Nikolaus zeigte auf Niemands Hals und zog seinen Mantel, mit dem er zuvor den Körper abgedeckt hatte, ein Stück tiefer. Die Niemandsländer in den vorderen Reihen rückten auf. Manche kletterten auf die Bäume, stellten sich auf die Schultern ihres Vordermannes oder ließen sich hochheben. Und die, die zu klein waren, zu weit weg standen oder schlechte Augen hatten, vertrauten auf die Worte derer, die erkannten, was sich inmitten des Liebeswäldchens ereignete.
    Der Elfenstaub hatte Niemand nicht völlig sichtbar gemacht. Durch die fleckige Transparenz schimmerte der Boden. An einer Stelle am Hals wurde seine Unsichtbarkeit durchbrochen.
    Dort steckte, ein Stück tiefer gerutscht, als der Nikolaus Niemand an sich gedrückt hatte, und nun erkennbar, ein Kloß, winzig klein, ein kleiner Trauerkloß.
    »Petit!«, rief Nina.
    »Ich muss ihn da rausholen!« Anton schlug die Sackärmchen über den Quast.
    »Das geht nicht. Er gehört zu Niemand.« Lilly legte eine Pfote auf den traurigen Sack.
    »Das weißt du nicht«, jammerte er.
    »Doch.« Nina presste die Lippen fest aufeinander, Tränen rollten über ihre Wangen.
    Der Nikolaus streckte ihr eine Hand entgegen und zog sie zu sich, eng an seine Seite, nahe zu Niemand.
    Sie sah auf seinen leblosen Körper.
    Er schien zu schlafen.
    »Seine Mutter hatte einen Trauerkloß geboren, dann muss er auch dazu in der Lage gewesen sein. Petit ist Niemands Trauerkloß, nicht wahr?«
    »Woher weißt du das?«, fragte Lilly.
    »Ich habe ihre Briefe gelesen.«
    »Er soll da rauskommen. Mein Petit.« Anton hockte auf dem Boden, sein Sack ein Labyrinth aus Falten.
    ******

    Fräulein Klimper ertrug die Trauer nicht länger, sie wollte die Hoffnung und das Glück zurückbringen. Früher – als das Niemandsland noch neu und nicht so stark bevölkert war, als es Niemand Sonst noch nicht gegeben hatte und auch Niemand nicht, als das Niemandsland schlichtweg Land hieß, Land mit dem Vor- oder Nachwort, das den zu diesem Zeitpunkt Herrschenden nützlich erschien – hatten sich die wenigen Wimpernverlierer Glück gewünscht: Glück, Gesundheit, wortreiches Leben, Liebe und Frieden. Fräulein Klimper war keine Fee, die an der Zukunft drehen konnte. Liebe und Frieden schaffte sie nicht herbei, doch einen Funken Glück und ein wortreiches Leben schenkte sie gerne. Mit der Zeit veränderten sich die Wünsche. Die Langeweile beherrschte das Leben. Angst, Traurigkeit und Lethargie zogen ein. Die Bewohner wünschten sich Ablenkung, die sie sich durch Materielles erhofften, von dem sie alles zu wissen glaubten, es aber selbst noch nie gesehen hatten. Alles, solange es aus dem Land hinter der Grenze kam – das Land, aus dem Nina stammte – und aus anderen Ländern hinter anderen Grenzen. Das musste sich ändern. Sofort!
    »Nimm mich hoch, bitte Wurzelmännchen, mach schon!«
    Das Wurzelmännchen, dessen Rinde nass und rutschig von seinen Tränen war, setzte Fräulein Klimper auf seine Schulter. »Halt dich gut fest!«
    »Hört mir zu. Hört doch!«, rief sie.
    Alle Blicke – traurige und hoffnungsvolle – richteten sich auf Fräulein Klimper. Sie räusperte sich. »Wenn wir uns alle eine Wimper ausreißen. – Halt! Nicht!«
    Ein Klugscheißer und ein Eierkopp hatten sofort zu ihren Wimpern gegriffen.
    »Nur alle zusammen mit Nina, denn Nina hat drei Wünsche frei.«
    Ein Raunen und Staunen ging durch die Reihen.
    »Ja!« Nina sprang auf. »Ich wünsche mir …«
    Das helle Klavierspiel begann.
    »… dass Niemand –«
    »Nein!« Fräulein Klimper schrie laut, ihre Stimme schrillte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. Sie war so aufgeregt. »Warte! Wir müssen es gleichzeitig machen. Und fest daran denken! Alle zusammen. Wir müssen daran glauben! Zusammen!«
    ******

    Lilly hatte auf einem Baum Platz genommen und Fräulein Klimpers Worten gelauscht. Leise und mit einem Gefühl voller lethargischer Geduld – die Geduld, die ihr nicht in ihren birnensackigen Kokon gelegt worden war, die Geduld, die sie nie gehabt hatte. Nun war sie da, ohne dass Lilly danach gesucht hatte. Fräulein Klimpers Idee klang schön. Könnte sie funktionieren? Auch sie wollte Niemand zurück.
    »Schaut euch an. Eure Tränen haben euch einiger Wimpern beraubt. Ihr braucht sie nicht einmal auszureißen. Haltet sie fest. Hält jeder eine Wimper in der Hand, beginnen wir. Erst dann. Vorher

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