Niemand
auf.
Eine Armlänge entfernt stand Jesus, neben ihm der Schemen, den die Niemandsländer als Heiligen Geist bezeichnet hatten. Jesus nickte Nina zu und strich dem toten Niemand über den Kopf. Dann ging er, den Heiligen Geist an seiner Seite, zum Nikolaus. Die beiden umarmten sich und Jesus tröstete seinen Freund, den die Trauer schüttelte.
Nina klemmte den Krug, den sie so festhielt, dass es ihr schwerfiel, die Finger zu lockern, zwischen die Oberschenkel Sie fühlte sich seltsam. Ihre Gefühle schienen hinter einer Mauer versteckt. Sie weinte nicht mehr, spürte jedoch tiefe Trauer und eine schmerzende Lethargie, an der sie zu verzweifeln drohte. Doch auch die Verzweiflung stürzte in einen Abgrund, in den Nina ebenso springen wollte. Niemand wäre ihr gefolgt, wenn er noch gelebt hätte. Und würde sie retten.
Doch Niemand lag hier, vor ihr. Tot.
Drei Elfen unterstützten Nina. Sie nahmen den Mantel weg, der Niemand gewärmt und bedeckt hatte, und begannen den regungslosen, unsichtbaren Leib Niemands mit ihren leuchtenden Tränen einzureiben. Sie sahen Niemand nicht, sie fühlten ihn nur. Einzig Petit war zu erkennen, er steckte in Niemands Hals und schlief. Anton schluchzte laut.
Nachdem die Elfen fertig waren, ging ein seidiger Schimmer von Niemand aus, der seinem Körper einen leuchtenden Umriss und Sichtbarkeit verlieh.
Nina legte die Babydecke, die seine Mutter für Niemand angefertigt hatte, über seinen Bauch.
Sein Name, für alle ringsherum deutlich lesbar.
Nina hatte schon zwei Mal eine Taufe miterlebt. In der Kirche. In ihrem Land, das ihr unwirklich erschien. Doch es war ein Pfarrer, der das Ritual durchgeführt hatte, und es waren beide Male Babys gewesen, die getauft worden waren. Babys, die geschrien oder vor Freude gegluckst hatten. Niemand blieb still, als sie Wasser aus dem Krug schöpfte und seine Stirn benetzte. Seine Haut fühlte sich warm an. Die Niemandsländer drängten sich eng aneinander. Alle wollten seinen Namen hören. Alle wollten dabei sein, wenn … Direkt hinter Nina standen der Nikolaus, Anton und Lilly. Fräulein Klimper saß auf Lillys Rücken, sie hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf die Wünsche, die über das Niemandsland rauschten wie ein Orkan.
Ihr Oberkörper wippte hin und her. Das Klavierspiel schwoll zu einem mehrhändigen Konzert an.
Bevor Nina den Namen aussprach, langsam und Silbe für Silbe – Niemands Namen, den nicht sie, sondern seine Mutter ausgesucht hatte, so wie es sein sollte –, bat sie eine der Elfen, ihr zu helfen. Die Elfe nahm den Krug entgegen, den Nina sich zwischen die Oberschenkel geklemmt hatte, und schüttete vorsichtig die leuchtenden Elfen-Tränen in Ninas zu einer Schale geformten Hände. Sie beträufelte sein Gesicht.
Ru-ben,
flüsterte sie.
Die Niemandsländer sprachen den Namen nach. Der Nikolaus hauchte: »Sohn.«
Leuchtende Tropfen perlten von seinen Lippen, seinen Wangen, die sich schemenhaft abzeichneten.
Noch einmal ließ sich Nina Tränen geben und befeuchtete seinen Kopf und sein Haar, das daraufhin hell erstrahlte.
Ma-lik.
Die Niemandsländer sprachen nach. Und der Nikolaus flüsterte: »Herrscher.«
Das dritte Mal schenkte sie die Tränen auf die Stelle seines Herzens aus, die Nina dank der Leuchtkraft der Elfen-Tränen und dank Petit, der als Orientierungshilfe diente, fand.
Bap-tist.
Die Niemandsländer wiederholten den Namen.
»Der Täufer.« Der Nikolaus schien sich der Bedeutung aller Namen bewusst.
Ru Ben Malik Baptist I – mit großem B in Ruben und einem fettgestickten Ben hatte Niemands Mutter den Namen ihres Sohnes bestimmt und auf der Decke, die im Schrank unauffindbar geblieben war, verewigt.
96.
Sein Gesicht, sein Körper sah wie die goldleuchtende Erscheinung eines Geistes aus. Sichtbar dank Elfen-Tränen und doch unsichtbar und tot. Nina umfasste seinen Kopf, hob ihn ein Stück an und beugte sich zu ihm hinunter.
»Nun hast du einen Namen, Ru Ben Malik Baptist I, und weißt es nicht«, flüsterte sie. Ihre Hände, beinahe so geformt wie zuvor, schimmerten durch Niemands – Bens – Kopf. Die kleine Helfer-Elfe wollte Nina ein viertes Mal Tränen einschenken. Eine ältere Elfe erkannte den Fehler und versuchte den Krug hochzureißen, doch die kleine Elfe ließ nicht los. Sie schimpfte singend in schiefsten Tönen. Die beiden Elfen zogen und zerrten hin und her, bis es knackte und der Glaskrug zerbrach. Ein Schwall Tränen platschte in Bens Gesicht.
Die
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