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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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vermutlich nicht den Tatsachen.
    Der Präsident Finnlands war ohne jeden Zweifel ein Kriegsheld. Jedoch ein Held ungewöhnlicher Art: kein Offizier, den man mit dem Mannerheim-Kreuz ausgezeichnet hatte, sondern ein junger Wehrpflichtiger, dem man unmögliche Aufträge erteilt hatte, ein namenloser junger Mann, der später vergessen oder zu einer Nummer auf einer Liste mit Gefallenen wird, ohne daß sich jemand etwas dabei denkt.
    Sein Verband hatte hoch oben im Norden und weit hinter den feindlichen Linien mit Sabotage und Aufklärung gearbeitet. Eine Voraussetzung war, daß man sich gut auf Skiern bewegen konnte. Eine weitere Voraussetzung war, daß man erst kurz vor Anbruch der Dämmerung zu feuern begann, damit die nahende Dunkelheit selbst bei tiefem Schnee jede Verfolgung unmöglich machte.
    Er hatte nie viel Aufhebens davon gemacht. Um seiner selbst willen hatte er versucht, es zu vergessen, und seine Umgebung hatte es respektiert. Tatsächlich war seine Vergangenheit in dieser Hinsicht nur bei einer einzigen Gelegenheit an die Öffentlichkeit gedrungen, nämlich als er als neugewählter Präsident zu einem Staatsbesuch im Weißen Haus in Washington eintraf.
    Das war während der schlimmsten Zeit der »Finnlandisierungs-Debatte« gewesen. Es war schwierig gewesen, Gespräche über Zellstoff, Forstindustrie und gute Beziehungen zu führen, da die Fragen ständig um ein anderes Problem kreisten: den krummen Rücken Finnlands gegenüber dem Nachbarn im Osten.
    Am Abend vor seinem ersten Auftritt bei der Pressekonferenz hatte einer seiner Pressesekretäre mit amerikanischen Kollegen getrunken und sich dabei bohrenden Fragen nach dem mangelnden Rückgrat gegenüber den Russen stellen müssen. Schließlich hatte sich der finnische Patriotismus gemeldet, und der Pressesekretär hätte fast die Selbstbeherrschung verloren, als er sagte: »Unser Präsident hat im Krieg persönlich mehr als zweihundert Russen getötet. Wie viele Russen hat euer Präsident erwischt – außer auf der Leinwand?«
    Das konnte nur ein Ergebnis haben. Der Präsident trat bleich, nervös und gespannt vor die amerikanischen Journalisten, sowohl von seinem unbeholfenen Englisch gequält wie von der mangelnden Gewohnheit, Finnland insgesamt zu vertreten; er brachte seine vorbereitete Einleitung stotternd hinter sich und erklärte mit einer verlegenen Geste, er wolle gern Fragen beantworten, falls welche gestellt würden.
    Darauf hoben fünfzehn Mann auf einmal die Hand, und als er auf den ihm am nächsten Sitzenden zeigte, stellte ihm dieser die Frage, die alle stellen wollten:
    »Mr. President, wie viele Russen haben Sie getötet?«
    Die Frage traf ihn wie ein Faustschlag ins Gesicht. Er hatte alles erwartet, selbst härteste Fragen, doch nicht diese. Es dauerte eine Weile, bis er sich faßte.
    Dann antwortete er:
    »In dieser für Finnland so harten Zeit hat jeder Mann seine Pflicht getan. Ich auch.«
    Dann sagte er nichts mehr und erwartete voller Angst, daß sie weiterfragen würden. Doch im Saal wurde es still. Man mußte ihm etwas angesehen haben. Vielleicht das, was er fühlte.
    Und jetzt bestand also die Möglichkeit, daß er andere junge Finnen, die vielleicht so waren, wie er selbst einmal gewesen war, auf Skiern in die Polarnacht schicken mußte, und zwar mit dem Auftrag zu töten.
    Er erkannte sehr wohl, daß er sich bei dieser Entscheidung nicht von Sentimentalität leiten lassen durfte. Rein logisch und rational fiel es ihm nicht schwer, das moralische Problem zu formulieren.
    Wenn die Gefahr bestand, daß der Kernwaffendrache aus der zerfallenden Sowjetunion entkam, mußte jeder Verantwortung übernehmen, der dazu in der Lage war. Keine Katastrophe konnte größer sein als vagabundierende Kernwaffen. Das war leicht zu erkennen.
    Daß einzelne große Opfer auf sich nehmen und vielleicht sogar ihr Leben einsetzen mußten, durfte dem ebenfalls nicht im Weg stehen. Auch das war leicht einzusehen.
    Die Konsequenz dieser leicht einzusehenden Dinge blieb trotzdem, daß er junge finnische Soldaten in einen nicht unwahrscheinlichen Tod würde schicken müssen.
    Eine andere mögliche Folge, wenn auch von weit geringerer Brisanz, war die, daß man ihn hinterher vielleicht unter quälendsten Formen zur Verantwortung ziehen konnte. Quälend nicht in erster Linie für ihn selbst als Person, sondern vielmehr für die Nation. Eine solche Diskussion würde, wenn sie je öffentlich wurde – aber dieses Risiko bestand schließlich bei allem; früher

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