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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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kurzen Kopfnicken.
    Alexej Mordawin zwang sich zu der Einsicht, daß die letzten beiden Tage wohl die erschütterndsten seines ganzen Lebens gewesen waren, zumindest seines Berufslebens.
    Als er sich oben beim Chef der Marinebasis von Seweromorsk einfinden sollte, hatte er sich nichts weiter vorstellen können als eine Versetzung zu den Überwasser-Einheiten, obwohl ihm das ein wenig weit hergeholt schien. Die Waffenoffiziere an Bord der mit Kernwaffen bestückten U-Boote kannten sich mit den Besonderheiten dieser Schiffsgattung aus, und es wäre offenkundige Verschwendung von Geldmitteln und Ausbildung, Offiziere wie ihn etwa auf einen Kreuzer zu versetzen.
    Er hatte sich verspätet, zwar nur um eine Minute, aber immerhin, und das lag an einer reinen Trivialität. Als der Bus am Geschäft der Bewaffneten Streitkräfte unten am Leninskij Prospekt vorbeikam, fiel im plötzlich ein, daß seine Uniform die falschen Rangabzeichen hatte. Er stürzte aus dem Bus, rannte in den Laden und kaufte sich neue Rangabzeichen. Dann bat er um Nadel und Faden, was bei den im übrigen recht säuerlich dreinblickenden Damen, die dem kleinen Warenhaus vorstanden, einige Heiterkeit auslöste.
    Er konnte gut nähen. Immerhin war er mit der Sowjetmarine oft genug auf großer Fahrt. Überdies war er in seiner Jugend Vollmatrose gewesen, bevor man ihn bei der Marineschule angenommen hatte. Es ging folglich recht schnell, die Beförderung an seiner Uniform kenntlich zu machen. Er bekam sogar einige zwar barsche, aber doch anerkennende Kommentare von einer der älteren Frauen. Sie meinte, es sei fast ein Wunder des Herrn, einen Kerl nähen zu sehen. In letzter Minute kam ihm noch die Idee, eine neue Schirmmütze zu kaufen, und als er das Warenhaus verließ, verpaßte er nur knapp den Bus nach Seweromorsk. Obwohl er in dem Militärkaufhaus nicht viele Rubel ausgegeben hatte, kam er doch zu dem Schluß, daß ihm das Geld für ein Taxi fehlte.
    Der Chef des Stabes von Seweromorsk war Vizeadmiral und der zweithöchste Offizier des gesamten Militärdistrikts. Das Empfangsritual war sorgfältig darauf angelegt, daß der Besucher sich nichtig und unbedeutend fühlte. Zunächst mußte Mordawin warten. Dann wurde er wegen seiner Verspätung getadelt, und anschließend wartete der Vizeadmiral demonstrativ lange damit, ihn zum Sitzen aufzufordern.
    Doch dann war das Zeremoniell zu Ende, und nach nur wenigen Minuten war ihm klar, was ihn in seinem neuen Kommando erwartete, das auf unbestimmte Zeit lief.
    Zynisch ausgedrückt sollte er Chef einer Verladestation bei der Eisenbahn werden. Die Streitkräfte waren gerade dabei, an der Bahnlinie zwischen Kola und Petschenga südlich seiner Basis bei Sapadnaja Litsa ein Anschlußgleis zu legen. Bestimmte Eisenbahnwaggons mit einer bestimmten Ladung sollten dort nämlich diskret aussortiert werden. Die Ladung sollte anschließend neu sortiert und verpackt werden, bevor sie für den Weitertransport zu den neuen Schutzräumen bei Sapadnaja Litsa umgeladen wurden.
    Es war keine gewöhnliche Ladung. Es handelte sich um unspezifizierte Sprengköpfe sowohl strategischer wie taktischer Kernwaffen aus allen nur denkbaren Ecken und Enden der Sowjetunion, selbstverständlich aus der Ukraine und Weißrußland, aber auch aus Kasachstan.
    Der politische Zusammenhang war klar, aber dennoch erschreckend. Es fand offensichtlich ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit statt, damit Moskau über möglichst viele Kernwaffen die Kontrolle erhielt. Solange die Sowjetarmee noch eine zusammengehaltene interrepublikanische Macht war, galt es, sich zu beeilen. Törichte Politiker in der Ukraine wie in den anderen mit Kernwaffen bestückten Republiken hatten es sich in den Kopf gesetzt, selbständig zu werden. Nach ihren Begriffen gehörten eigene Kernwaffen zur politischen Selbständigkeit. Die höchste Führung der Sowjetunion hatte deshalb beschlossen, diese Bedrohung nach Möglichkeit mit größter Geschwindigkeit zu beseitigen. Schon der Gedanke, daß Kernwaffen in innenpolitischen Streitereien als Argumente eingesetzt werden konnten, war eine Katastrophe. Die internationalen Verwicklungen, die es mit sich brachte, wenn neue, selbständige Staaten ohne andere Ressourcen als ausgerechnet Kernwaffen entstanden, waren zwar noch etwas abstrakt, aber trotzdem äußerst bedrohlich.
    Das rein praktische Problem bestand jetzt darin, daß es nicht genügend spezialisiertes Personal zur Demontage aller Standorte außerhalb Rußlands gab, die

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