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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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würde es hier oben nicht kälter sein als unten auf einem Stehplatz, und außerdem hatte er zwei Marinegläser zu Hause. Man konnte gelegentlich in die Wohnung gehen und einen warmen Tee trinken, und in der Halbzeit konnte man sich auch noch aufwärmen.
    Er setzte sich prüfend auf das wohlriechende, angeblich dänische Ledersofa und zog sich das Musikgerät über den Kopf, das wie ein Ohrenschützer aussah. Dann drückte er eine Zeitlang auf die verschiedenen Knöpfe dieses Zauberstabs, bis Schostakowitschs Leningrader Symphonie ihm in den Ohren dröhnte, als säße er mitten unter den Musikern. Er schloß die Augen und schlief ein, ohne einzuschlafen.
    Er wachte davon auf, daß Jelena lachend an ihm zerrte, und als er die Ohrenschützer abnahm, wies sie mit gespielter Entrüstung und in die Hüften gestemmten Händen darauf hin, daß er sich über die Pilze hermachen müsse.
    Sie zündeten beim Essen Kerzen an. Sie hatte irgendwo echte Stearinkerzen gekauft, und außerdem hatten sie den Eßtisch vor das große, zugige Fenster der Balkontür geschoben. Noch war es nicht so kalt. Vielleicht würden sie bis zum Winter etwas gegen die Zugluft unternehmen müssen. Die Kartoffelklöße mit der Pilzsauce schmeckten himmlisch, denn immerhin waren sie mit richtiger Sahne angemacht. Sie aßen langsam, ohne viel miteinander zu sprechen, und zogen die Mahlzeit in die Länge, bis es draußen dunkel geworden war. Die Kerzen waren die einzige Beleuchtung.
    Es war ein vorzügliches, vierstündiges Essen zu Hause bei Familie Bertoni gewesen, in jeder Hinsicht sehr italienisch einschließlich einiger Streitereien. Etwas anderes war nicht zu erwarten gewesen.
    Luigi fühlte sich fast euphorisch. Die Streitereien trugen ebenfalls dazu bei, ihn aufzumuntern. Ihren Großvater hatten sie schließlich aus dem Zimmer führen müssen. Er fuchtelte wild mit seinem Stock herum, da er am Ende seine Wut nicht mehr im Zaum halten konnte. Es ging um die Frage, ob man in einer anständigen Familie wirklich französischen Wein trinken müsse, und ob es wirklich nötig sei, immer so verdammt viele Kleider anzuhaben, wenn man etwas aß. Großvater zufolge genoß man gutes Essen am besten im Unterhemd und mit italienischem Wein in einer Karaffe. Es sei unerhört, diese französische Angeberpisse zu trinken. Es solle alles so sein wie in der guten alten Zeit.
    Die Frage hatte Tanten und Onkel in eine mehrstündige heftige Diskussion verwickelt. Waren es Emporkömmlingsmanieren, französischen Wein zu trinken?
    Luigis Vater versuchte, in dem Konflikt zu vermitteln – wie es jeder Schwede getan hätte –, und wie die meisten Schweden hatte er damit nur wenig Erfolg. Er wies darauf hin, daß er als neutraler Schwede aus einem nicht weinproduzierenden Land gewiß den Vorteil habe, sich in nationaler Hinsicht weder an den einen noch an den anderen Wein gebunden zu fühlen. Manche Gerichte verlangten nach einem italienischen Wein, andere nach einem französischen. Außerdem könne man bei manchen Gelegenheiten sogar spanischen trinken (lautes, mißbilligendes Gemurmel), und zumindest in Schweden gebe es bestimmte Gerichte, die nach Schnaps verlangten, zum Beispiel Krebse (er sagte »Kleine Süßwasserlangusten«, was die Sache nicht besser machte), und so gingen die Wellen der Erregung hoch, während es draußen immer dunkler wurde und die Illuminierung der Kathedrale bis ins Eßzimmer drang.
    Luigi saß so, daß er die Kathedrale von Zeit zu Zeit durch die Fenster betrachten konnte. Er trug einen Anzug und hatte die Jacke anbehalten. Er hatte in seinem Zimmer oder seinem ständigen Gästezimmer eine italienische Garderobe. Die Wahl der Kleidung fiel ihm schwer, so wie es ihm schwerfiel zu entscheiden, ob er Schwede oder Italiener war. Doch im Augenblick war es angenehm und schön, ganz in der italienischen Identität aufzugehen und sich gelegentlich voller Glut in Großvaters Nonsens-Diskussion zu stürzen.
    Eine kurze Zeit hatte er selbst im Mittelpunkt des permanenten Familienstreits gestanden, nämlich als die Frage seiner plötzlichen Flucht von dem damaligen Familienfest zur Sprache kam. Es wurde heftig moniert, daß er nach fünf Jahren in Amerika heimgekommen war, nur um zu Hause zu essen und dann zu verschwinden, statt mit aufs Land zu fahren.
    Es war seine Mutter, die das Thema zur Sprache brachte. Die früheren Streitigkeiten des Abends hatten ihr Gesicht gerötet, und wenn ihr nach Streit zumute war, war sie alles andere als eine kühle

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