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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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zusammengeschlossen hatten, ums
Leben gekommen. Das war in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der
Nähe von Weaverville. Der Bruder könnte das Bild gemalt und nach China
geschickt haben, so, wie man heute Schnappschüsse oder Ansichtskarten
verschickt.«
    »Dann ist an Ong mehr, als ich dachte.
Wie er sich gibt und sein Haus einrichtet, hätte ich schwören können, er tut
alles, um sich von seiner Abkunft zu distanzieren. Andererseits betont er
leidenschaftlich die Mühsal, die seine Familie durchgemacht hat — der schreibt
er ihren Erfolg zu.«
    »Ich glaube, Lionel hat, wie die
meisten von uns, eine verworrene Vorstellung von ethnischer Identität.«
    »Auf ihre Art ist sie doch stark. Die
Tatsache, daß er sein Minenprojekt ›Golden Hills‹ genannt hat — Gum San — ,
zeigt, wie tief seine Wurzeln reichen. Offensichtlich bedeutet ihm das Projekt
sehr viel — genug vielleicht, daß er sich über alles hinwegsetzt, nur um seinen
Erfolg zu sichern.«
    Marcy nickte. Diese Vorstellung
verwirrte sie sichtlich, und sie sammelte die letzten Reste ihres Lunchs ein.
An dem Blick, den sie auf die Dias auf dem Leuchttisch warf, erkannte ich, daß
sie gern an ihre Arbeit zurückwollte. Also schrieb ich ihr meine Privatnummer
auf und sagte, sie könne mich jederzeit dort anrufen, wenn ich nicht bei All
Souls zu erreichen wäre, sie wolle sich gleich melden, wenn sie mit Ongs
Sekretärin gesprochen habe oder mit ihrem Freund, der im Transpacific-Haus
gewohnt habe.
    Auf dem Weg zurück zum Empfang blieb
ich vor einem der hochstilisierten Bilder mit den Schriftzeichen stehen. Es
zeigte eine Szene, die der in Ongs Büro ähnelte: ein Berg und davor eine Ebene,
auf der Koniferen wuchsen. Und sogar ich konnte feststellen, daß es von einer
künstlerisch geschickteren Hand stammte. Doch irgendwie berührte es mich nicht
so wie Ongs Bild. Mochte es auch von gröberer Machart sein, es hatte etwas, das
dieses Bild nicht ausstrahlte.
    Leidenschaftlichkeit? Ja,
Leidenschaftlichkeit. Und noch etwas. Wut?
    Ja, Wut.
     
     
     

19
     
    Vierzig Minuten später war ich bei All
Souls. Ted saß hinter seinem Schreibtisch im einstmals herrschaftlichen Foyer
des viktorianischen Hauses und ließ die langen, schmalen Finger über die
Tastatur seines IBM-Computers gleiten. Ich lächelte und dachte wie so oft, daß
er mit seinen feinen Gesichtszügen und dem schwarzen, ordentlich gestutzten
Kinnbart eher aussah, als komponierte er am Flügel gerade ein Konzert und
schreibe nicht irgendeinen juristischen Text in den Computer. Ohne aufzuschauen
oder sein Tippen zu unterbrechen, sagte er: »In deinem Fach liegt eine
Nachricht, und von Hank soll ich ausrichten, er mußte aus dem Haus und meldet
sich später bei dir.«
    Ich nahm den pinkfarbenen Zettel
heraus. Eine Miss Ryder von der staatlichen Kommission, bei der die Geologen
und Geophysiker registriert sind, hatte zurückgerufen. »Ist Rae da?«
    Ted schüttelte den Kopf.
    »Und sie hat auch nicht angerufen?«
    »Nein.«
    »Verdammt noch mal! Was ist nur mit ihr
los?«
    Ted fuhr auf seinem Sessel herum und
sah mich an. Sein Gesicht wurde blaß. »Mein Gott, was ist denn mit dir los?«
    Ich faßte mir vorsichtig an die
geschwollene Stirn. »Ein böser Sturz. Ich habe eine Zeugin am Telegraph Hill
observiert — dort, wo diese Treppen vom Parkplatz am Coit Tower hinunterführen,
weißt du? — und habe mir dabei den Kopf angeschlagen.« Mehr wollte ich ihm von
der Sache nicht erzählen.
    Er sah irgendwie enttäuscht aus. Ted
ist in unserer Kooperative der Hauptumschlagplatz für Klatsch und Tratsch, und
er liebt seine Geschichten möglichst dramatisch. Auf weiteren Nachschub
erpicht, fragte er: »Was hat Rae denn verbrochen?«
    »Hat einfach aufgelegt.«
    »Was hast du ihr getan?«
    »Wie kommst du immer darauf, daß ich im
Unrecht bin?«
    Er zog die Schultern hoch, und seine
Mundwinkel zuckten amüsiert. »Rae ist nun wirklich besonders umgänglich. Da muß
schon einiges passieren, bis sie einfach den Hörer auflegt — vor allem bei dir.
Du bist schließlich ihr großes Idol.«
    »Du meinst, ich war ihr Idol, bis letzten Sommer alles schiefging.«
    »Nach der Schießerei?«
    »Ja, seitdem ist alles anders zwischen
uns. Sie hat nie ein Wort darüber verloren, aber ich sehe es an ihrem Blick, höre
es bisweilen an ihrem Tonfall.« Bei dir auch.
    Ted nickte, sah mich forschend an und
strich sich über den Bart. Es war, als habe er meine unausgesprochenen Worte
gehört. Nach einer

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